»Man braucht Beharrlichkeit und Ideen«
von Gabriele Wittmann
Der Behindertenbeauftragte des Landes Bremen
Als Jurist, Wissenschaftler und Autor beschäftigt er sich seit über einem Jahrzehnt mit sozialen Menschenrechten: Arne Frankenstein. Sein Promotionsvorhaben ruht derzeit, denn seit drei Jahren sorgt er als Landesbehindertenbeauftragter von Bremen dafür, dass das große Projekt der Inklusion dort vorankommt. Wir haben ihn kurz nach der Wahl im kleinsten Bundesland gefragt: Was werden Sie
der Regierung jetzt mit auf den Weg geben?
Arne Frankenstein: Ich werde innerhalb der ersten Woche die Anforderungen an einen Koalitionsvertrag aus der Sicht des Behindertenbeauftragten formulieren. In der letzten Koalitionsperiode ist es nicht gelungen, einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu verabschieden. Gemeinsam mit anderen Akteuren haben wir eine kritische Stellungnahme zum ersten Entwurf abgegeben, weil dieser den Ansprüchen nicht genügte. Da muss jetzt nachgebessert werden.
Was wollen Sie tun?
Mein übergeordnetes Ziel ist, das jetzt ein richtig guter Aktionsplan kommt. Zum einen zum Thema Gesundheit. Aus meiner Sicht ist es dringend erforderlich, dass die Übernahme eines Kassensitzes für einen Arzt oder eine Ärztin nur dann erfolgen darf, wenn sichergestellt ist, dass es sich um eine barrierefreie Praxis handelt. Letzte Woche habe ich mich dazu mit Kollegen aus Bund und Ländern in Hessen getroffen. Wir haben gemeinsam formuliert, dass der Gesetzgeber Barrierefreiheit hier auch rechtlich verbindlicher gestalten muss.
Hier bewegt sich also etwas auf Bundesebene. Wird Arbeit auch ein Thema?
Auf jeden Fall. Wir haben in Bremen inzwischen weitgehend eine Schule für alle. Es erwerben dadurch deutlich mehr Menschen mit Behinderung einen Schulabschluss. Sie tragen die berechtigte Erwartung an mich heran, dass sie nach der Schule auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein wollen. Bremen fördert systematisch Inklusionsbetriebe, das finde ich einen guten Ansatz. Eine Forderung von mir ist, dass man Plätze in Werkstätten für behinderte Menschen daraufhin überprüft, ob sie nicht in Beschäftigungsverhältnisse auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt umgewandelt werden könnten. Es gibt dazu bereits Projekte, aber es fehlt jemand, der sich systematisch darum kümmert. Deswegen ist es wichtig, dass der Senat hierzu einen Schwerpunkt bildet.
Auch der Arbeitsplatz Inklusionshotel fehlt in Bremen …
Es ist fast ein bisschen peinlich, dass Bremen als eine von wenigen Großstädten noch kein Inklusionshotel hat. Das muss dringend gegründet werden. Man kann das Thema Arbeit hier gut verbinden mit dem Thema Quartiersentwicklung.
Was verstehen Sie unter »Quartiersentwicklung«?
Es bedeutet, dass man überall in den Quartieren Voraussetzungen dafür schaffen muss, einander ohne Barrieren zu begegnen. Dass man also von der Kita bis zu gemeinsamen Freizeitangeboten alles gemeinsam machen kann. Bei der inklusiven Quartiersentwicklung sollte die Koalition deshalb einen Schwerpunkt setzen.
Apropos Koalition: Wo steht denn die Stelle des Landesbehindertenbeauftragten in Bezug auf die Bremer Politik?
Die Stellung des Landesbehindertenbeauftragten ist in Deutschland sehr unterschiedlich organisiert. In manchen Bundesländern ist sie Teil der Landesregierung, in anderen ist sie direkt bestimmten Ressorts zugeordnet, etwa der Behörde für Wissenschaft und Gleichstellung. In Bremen ist sie beim Parlament angesiedelt. Das garantiert ein hohes Maß an Unabhängigkeit, weil man damit nicht Teil einer Regierung ist. Andererseits birgt es die Herausforderung, mit guten Argumenten in das Regierungshandeln durchdringen zu müssen.
Und wie können Sie in die Regierung hineinwirken?
Wir können nicht exekutiv wirken, die Umsetzung obliegt dem Senat. Aber ich kann Einfluss nehmen – durch Stellungnahmen zu Gesetzen, durch Öffentlichkeitsarbeit und durch Gespräche, die ich mit Akteuren führe, die das politisch zu verantworten haben oder das umsetzen können. Für die Gründung eines Inklusionshotels sind das zum Beispiel das Arbeitsressort, das Sozialressort sowie mögliche Geldgeber.
Und auf welche Art können Sie wirken?
Es ist ja nicht der Behindertenbeauftragte alleine, der gute Ideen hat. Wir führen Gespräche mit behinderten Menschen und ihren Verbänden darüber, wie man das gemeinsam angehen kann. Auf gleichwertige Lebensverhältnisse hinwirken kann man am besten, wenn man Strukturen verändert. Denn bei einzelnen Projekten besteht die Gefahr, dass man sich verzettelt.
Man muss sich immer fragen: Wie und wann kann ich bei einem Thema etwas erreichen?
Was meinen Sie mit »Strukturen«?
Wir haben es beispielsweise geschafft, dass in der Bremer Landesbauordnung seit Oktober 2021 verpflichtend vorgeschrieben ist, dass bei Bauvorhaben ab einer Größe von acht Wohneinheiten eine Wohnung rollstuhlgerecht sein muss, ab 20 Wohneinheiten sind es dann zwei Wohnungen. Ein noch größerer Erfolg ist aber, dass wir mit dem Verkehrsressort, dem Sozialressort und der kommunalen Wohnungswirtschaft eine Vereinbarung darüber schließen konnten, dass diese Wohnungen im Bestand katalogisiert werden – und zwar mit einer konkreten Freihaltezeit. Wenn es Wechsel im Mietverhältnis gibt, wird also erst geprüft: Benötigt jemand die rollstuhlgerechte Wohnung? Und: Es gibt eine ganz konkrete Anlaufstelle, die das vernetzt und vermittelt.
In welchem Stadtteil würden Sie gerne wohnen?
Können Sie interessierten Nachahmern erklären, wie das erreicht wurde?
Als erstes haben wir alle Menschen, die im Bundesland Bremen das Merkzeichen aG haben, mithilfe des Versorgungsamts angeschrieben. Wir haben fragen lassen, ob sie einen Bedarf an einer rollstuhlgerechten Wohnung haben und in welchem Stadtteil sie am liebsten wohnen würden. Die Antworten haben wir wissenschaftlich ausgewertet und hochgerechnet, wie groß der Mangel in der Fläche ist. Das Ergebnis hat uns nicht überrascht. Aber es war dann mal amtlich.
Und dann?
Dann hat man überlegt: Wie kann man diese Lücke schließen? Man hatte sich erst mit der Wohnungswirtschaft darauf verständigt, häufiger rollstuhlgerecht zu bauen. Diese Selbstverpflichtung hat aber in dem angepeilten Zeitraum nicht funktioniert.
… wie meistens, wenn die Wirtschaft Selbstverpflichtungen abgibt …
Deshalb haben wir dann gefragt: Brauchen wir bei diesem gravierenden Mangel jetzt nicht eine politische Positionierung zu diesem Thema? Das hat dazu geführt, dass wir in der Bürgerschaft eine politische Mehrheit für die Einführung einer Quote bekommen haben.
Das wäre in vielen Landesregierungen derzeit undenkbar!
Der rot-grüne Senat hatte die Quote 2018 erstmalig ins Gesetz aufgenommen, aber dann ausgesetzt. In der vergangenen Legislatur wurde dann auch die Aussetzung beendet. Und seit Oktober 2021 ist die Quote nun in Kraft.
Wie ging es weiter?
Gemeinsam mit der Bausenatorin habe ich mich dafür eingesetzt, dass es ein Begleitgremium dafür geben soll, das auch mit Menschen mit Behinderung besetzt ist. Und das klären soll, wie man diese Quote sinnvoll umsetzt. Aktuell geht es darum, wie man das mit einer Online-Suche kombiniert, damit sich Menschen im Rollstuhl möglichst einfach online bewerben können.
Andere Städte können davon nur träumen – oder haben das wie in NRW nach der letzten Landtagswahl wieder abgeschafft …
Wir sind zufrieden mit diesem Zwischenstand. Das war so eine typische Aufgabe, die man über lange Zeit weiterdenken musste. Man braucht Beharrlichkeit und Ideen, wie man so etwas strukturieren kann. Es hat einige Jahre gedauert. Mein Vorgänger hatte das zuerst angestoßen.
Ich habe wiederholt den Eindruck, dass in Bremen in Sachen Inklusion mehr Dinge vorangehen als anderswo. Hat das vielleicht historische Gründe?
Vielleicht liegt es daran, dass es für das Thema »Selbstverständnis« von Behinderung eine große Rolle gespielt hat, dass die erste »Krüppelgruppe« hier in Bremen gegründet worden ist. Die Anfänge lagen ja in den USA. Als die Bewegung dann nach Deutschland geschwappt ist, gab es hier unterschiedliche Stränge. Die strengsten Gruppen waren die »Krüppelgruppen«, die gesagt haben: Wir grenzen uns von nichtbehinderten Menschen so ab, dass wir die nicht dabei haben wollen. Und die Behindertenbewegung war in Bremen immer relativ stark und fortschrittlich, weil das Thema gut in derGesellschaft verankert war. Bremen hat auch im Personennahverkehr besonders streng Veränderungen eingefordert und intensiv an Barrierefreiheit gearbeitet, sodass wir hier schneller Fortschritte erreicht haben als andere Städte. Aber wir müssen jetzt in diesem Tempo weiter-machen, sonst ziehen andere an uns vorbei.
Wie sind Sie selbst denn dazu gekommen, sich für Menschen mit Behinderungen einzusetzen?
Ich bin als Kind im Rollstuhl in Regelschulen gegangen. Das hat nur deshalb geklappt, weil meine Eltern sich sehr dafür eingesetzt haben. Und weil wir die Bedingung einhalten konnten, dass ich persönliche Assistenz bekomme, damit ich den Lehrern »nicht zur Last falle«. Damals war das noch ein Zivildienstleistender.
Sie haben dann in Hamburg studiert …
Ich habe mit dem Jurastudium begonnen und mich dabei auch völkerrechtlich mit der UN- Behindertenrechtskonvention beschäftigt, die gerade in Deutschland in Kraft getreten war. Da habe ich gemerkt: Wenn das die Rechte sind, die Menschen mit Behinderung zustehen, dann ist vieles in Deutschland nicht menschenrechtskonform!
»Die Politik erscheint vielen weit weg«
Ihr Referendariat haben Sie dann in Bremen absolviert?
Ja. Und ich bin dann zufällig in dasselbe Haus eingezogen, in dem der Verein »Selbstbestimmt Leben« seinen Sitz hatte. Ich hatte bereits Aufsätze von Horst Frehe gelesen, die mich sehr darin bestätigt hatten, was man alles tun müsste. So bin ich dann ganz automatisch mit den Menschen und Vereinen in Kontakt gekommen, hatte ein Interesse daran, dort mitzuwirken, und saß dann relativ schnell im Vorstand. Über diese Bewegung bin ich in den Landesteilhabebeirat gekommen, der auf Landesebene die Umsetzung
der UN-Behindertenrechtskonvention überwacht. Und als es um die Frage ging, wie man Menschen mit Behinderung besser in Gremien verankern kann, bin ich in das Aufsichtsgremium der Landesrundfunkanstalt entsandt worden.
Wie sind Sie dann in das Amt des Landesbehindertenbeauftragten gekommen?
Mein Vorgänger war der erste, der 2005 dieses Amt in Bremen bekleidet hatte. Als er in den Ruhestand ging, habe ich mich beworben. Die Stelle war für einen Juristen ausgeschrieben, der Erfahrung in der Beratung behinderter Menschen hatte. Das passte.
Was können Sie Menschen mitgeben, die sich engagieren wollen?
Ich glaube, dass viele Menschen Vorbehalte haben, weil sie Sorge haben, dass die Politik soweit weg ist oder dass sie nicht zuhört. Dabei sind wir die ganze Zeit auf der Suche nach Menschen, die Interesse daran haben, dieses Thema nach vorne zu bringen.
Fragen: Gabriele Wittmann
Illustration: Margarethe Quaas
Selbst engagieren
Wer sich selbst engagieren möchte: Im Bundesland Bremen beispielsweise sind die Sitzungen des Landesteilhabebeirats alle öffentlich. Jeder und jede kann teilnehmen und erst mal »reinschnuppern«, wie so etwas läuft. Arne Frankenstein meint dazu: »Wir Verwaltungsmenschen müssen besser darin werden, dass wir Dinge nicht immer so kompliziert besprechen. Ich komme ja selbst aus der Behindertenbewegung.
Und ich möchte, dass man im Austausch miteinander ist, wenn es um Dinge geht, die vielleicht nicht alle mitbekommen.«
»Bei uns ist eine gute Anlaufstelle, um sich als behinderte Bürgerin oder Bürger des Landes Bremen zu melden«, sagt Arne Frankenstein.
Jede kann kommen und sagen: »Ich möchte mitmachen, wie kann ich etwas vorwärtsbringen?« Das kann in einem Ehrenamt sein. Man kann sich aber auch darüber hinaus für Fragen der Behindertenpolitik engagieren. »Wir nehmen wahr, dass Menschen unter Druck stehen und oft keine Kapazitäten mehr für ein ehrenamtliches Engagement haben«, weiß Frankenstein. »Dann kann man als Job vielleicht erstmal projektbezogen etwas tun, das muss ja nicht gleich auf Dauer sein.«