Fragen Sie mal Ihre Nachbarn

von Gabriele Wittmann

Was das Weibernetz mit dem DBR 2023 vorhat

Der Deutsche Behindertenrat hat einen neuen Vorsitz: Im Jahr 2023 führt das »Weibernetz« das Aktionsbündnis an und macht Politik für die etwa drei Millionen Mitglieder des DBR. Die neue Vorsitzende des DBR Sprecherinnenrats heißt Dr. Sigrid Arnade – bekannt durch ihren jahrzehntelangen Einsatz im Feld, zuletzt als Sprecherin der LIGA Selbstvertretung. Wir fragten sie zunächst: Gibt es so wenig Leute in der Selbsthilfe, dass die »alten Hasen« alle Posten übernehmen müssen?

Sigrid Arnade: (lacht) Nein, andere Frauen sind genauso befähigt. Aber ich bin jetzt in Rente und habe von daher mehr Zeit. Und da die politischen Termine meist in Berlin sind, ist es für mich als Berlinerin oft einfacher als für Kolleginnen, die von weiter weg anreisen müssen.

Wer es nicht kennt: Was ist das Weibernetz für ein Verein?

Es ist das »Bundesnetzwerk von Frauen, Lesben und Mädchen mit Beeinträchtigungen«, eine Vertretung von Interessen auf Bundesebene.

Sie sind schon lange mit dem Weibernetz und seinen Themen verbunden. Wie hat das angefangen?

Angefangen hat es damit, dass ich im Alter von knapp 30 Jahren durch eine Behinderung auf den Rollstuhl angewiesen war. Ich war schon vorher feministisch unterwegs, als Tierärztin auf dem Land. Und ich merkte meine Benachteiligung gegenüber den männlichen Kollegen: Wenn eine Stelle frei wurde, hat sie ein Mann
bekommen. Oder wenn ich eine Stelle bekam, dann wurde ich schlechter bezahlt. Und dann war ich plötzlich Rollifahrerin, bin in einen Frauenbuchladen, und habe nichts zum Thema Frauen und Behinderung gefunden.

Kein einziges Buch?

Nichts. Es gab eine einzige Studie. Da habe ich angefangen, mich zu engagieren. In meiner journalistischen Tätigkeit habe ich eine Menge dazu geschrieben. Heide Pfarr wurde durch einen Artikel auf mich aufmerksam und fragte mich als Moderatorin an für eine Veranstaltung in Hessen. Da wurde dann das hessische Frauennetzwerk gegründet. Und als ich wieder in Berlin war, habe ich dort ein Berliner Netzwerk mitgegründet.
Und bei der ersten europäischen Konferenz behinderter Frauen in München habe ich angeregt, auch ein nationales Frauennetzwerk zu gründen. Das wurde dann das Weibernetz, wo ich die ersten Jahre auch im Vorstand war.

 Grafik: Hände zeigen auf Gesetzbücher. Darüber ein Zeitstrahl 2023
Illustration: Margarethe Quaas

Mit dem Weibernetz werden Sie also jetzt für frischen Wind im DBR sorgen. Welche sind für Sie die wichtigsten drei Themen für 2023?

Barrierefreiheit, Gesundheit, Gewaltprävention.

Was wollen Sie zuerst beackern?

Ich würde sagen: Was gerade auf der Tagesordnung

Wie könnte man es angehen, Barrierefreiheit nachhaltiger zu verankern?

Mit allen sprechen. Eine Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) anbahnen.
Ein Entwurf der 5. EU-Anti-Diskriminierungsrichtlinie liegt seit 2008 vor. Deutschland blockiert. Und das muss endlich aufhören.

Was wäre der Effekt?

Wenn das endlich in eine Regelung für die einzelnen Staaten umgesetzt würde, dann wären private Anbieter zu angemessenen Vorkehrungen verpflichtet. Ich bin keine Juristin. Aber ich denke, mit einer Reform des AGG könnte man vermeiden, in allen Bundesländern einzelne Gesetze machen zu müssen. Und es würde auch bedeuten, dass Arztpraxen endlich barrierefrei sein müssten.

Was würde noch daraus folgen?

Das ganze Sozialsystem, das Bildungssystem, der Bereich Mobilität würden barrierefrei werden. Der ganze ÖPNV sollte ja zum 1. Januar 2022 schon barrierefrei sein. Leider haben wir davon noch nicht viel gemerkt. Es steht aber im Koalitionsvertrag, also da muss etwas passieren. Wir werden mit den entsprechenden Fachpolitikerinnen sprechen, werden Druck machen, begleitet durch gute Öffentlichkeitsarbeit, damit das Ganze sicht- und hörbar wird.

Grafik: Durch Finger rinnt Sand. Daneben steht eine Dose. Darunter Plenarsaal
Illustration: Margarethe Quaas

Wie wird das Ganze konkret aussehen?

Das jeweilige DBR-Sekretariat schreibt das Bundeskanzleramt an mit dem Anliegen: Wir würden gerne mit dem Kanzler sprechen. Oder mit einem speziellen Minister oder einer Ministerin. Das gelingt allerdings seltener, das
werden dann eher Staatsekretäre. Oder aber mit den behindertenpolitischen Sprecherinnen der Bundestagsfraktionen. Dann gehen wir als Sprecherinnenrat dahin oder werden durch die Abeitsebene vertreten.

Wer sitzt alles im Sprecherinnenrat?

Verena Bentele vom VdK und Michaela Engelmeier vom SoVD, Hannelore Loskill von der BAGS und ich als Vorsitzende für das Weibernetz. Das sind die Sprecherinnen, also meist die Präsidentinnen oder Vorsitzenden. Die Arbeitsebene besteht aus den Geschäftsführenden und den Referentinnen.

Teilen die Akteure sich auf für bestimmte Themen?

Teilweise bearbeitet ein Verband gerade schwerpunktmäßig ein Thema wie Arbeitsmarkt oder Pflege. Dieses Spezialwissen nutzen wir dann. In jedem Fall sprechen wir uns vor einem Gesprächstermin ab, wer welches Thema übernimmt.

Kommen wir zum Thema Gesundheit. Was werden Sie sich da vornehmen?

Alles! Das Gesundheitswesen ist ein Moloch. Da sind so viele Risiken für Diskriminierung von Menschen mit Behinderung. Ich habe immer das Gefühl, da hat sich noch gar nicht herumgesprochen, dass es die UN-Behindertenrechtskonvention gibt. Die Medizinerinnen sehen immer nur die medizinische Definition von
Behinderung.

Es sollte ja bereits 2022 einen Aktionsplan für ein barrierefreies Gesundheitssystem geben …

Ja. Und dass wir noch nichts davon gehört haben, lässt das schon vermuten, dass es den nicht so schnell geben wird. Oder es sind entgegen dem Koalitionsvertrag Menschen mit Behinderungnicht beteiligt worden.

Wie werden Sie da eingreifen?

Wir werden fragen: Wie stellt ihr euch das vor? Gibt es schon verschiedene Arbeitsgruppen? Wir werden uns einbringen. Und auch die Benachteiligung von Frauen gegenüber Männern im Gesundheitswesen in den Blick nehmen.

Welche Benachteiligungen?

Zum Beispiel, dass sich bei medizinischen Tests oder Dosierungen von Medikamenten alles auf den »Normalmann« bezieht: Mittleres Alter, mittleres Gewicht. Das hat mit Frauen wenig zu tun. Auch alle Hilfsmittelanpassungen beziehen sich auf Männer, denn in den 1960er Jahren dachte man bei behinderten Menschen nur an die Kriegsbehinderten. Behinderte Frauen brauchen aber genauso Hilfsmittel. Und für alle
gilt: Wie wird der Kinderwagen, wie wird der Wickeltisch barrierefrei?

Woran wollen Sie im Themenbereich »Pflege« arbeiten?

Ein Unterschied zwischen pflegebedürftigen Frauen und Männern ist, dass pflegebedürftige Männer zu einem viel größeren Prozentsatz zuhause von ihren Frauen gepflegt werden. Das heißt aber im Umkehrschluss: Im Altenheim sind hauptsächlich Frauen. Und da Gewalt vor allem in Institutionen stattfindet, sind Frauen besonders häufig von Gewalt in der Pflege betroffen. An diesem Thema müssen wir arbeiten. In allen Ausbildungen für Gesundheits- und Sozialberufe muss künftig viel mehr zum Thema »menschenrechtliches Modell von Behinderung« aufgeklärt werden. Und zu den Unterschieden zwischen Frauen und Männern.

An wen werden Sie dafür herantreten?

Zum einen an die Bundesländer. Man könnte aber auch die Approbationsordnung für Ärztinnen bundesweit entsprechend ergänzen, zusammen mit der Bundesärztekammer oder dem Bundesforschungsministerium.

Mit wem müssen Sie sich dafür treffen?

Mit dem Bundesbehindertenbeauftragten, der ja auch im regelmäßigen Austausch mit den Landesbehindertenbeauftragten steht.

Kommen wir zum dritten Thema. Warum soll das Thema »Gewaltprävention« auf die Agenda?

Dieses Jahr haben wir die einzigartige Situation, dass im Koalitionsvertrag steht, dass die
Gewaltprävention für Frauen und vulnerable Gruppen gestärkt werden soll. Behinderte Frauen haben ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden. In der Behindertenszene ist das auch bekannt. Aber fragen Sie mal Ihre Nachbarn, die sind darüber meist alle ganz erstaunt …

Ich nehme an, deswegen muss man erst einmal öffentlich aufklären?

Genau, denn sonst glaubt den Betroffenen keiner. Und wenn Frauen mit Verletzungen zur Ärztin gehen, müsste die auch die Sensibilität haben nachzufragen, ob hier ein Gewaltverhältnis vorliegt, und die Patientin eben nicht nur vor die Tür geknallt ist.

Was braucht es noch?

Schutz. Es braucht Geld, um Frauen barrierefreien Schutz zu bieten. Soweit wir vom Weibernetz Kontakt zu Initiativen hatten, an denen Betreiberinnen von Frauenhäusern beteiligt waren, hörten wir immer: Wir würden ja gerne, aber wir sind froh, überhaupt noch Wohnungen zu haben. Wir haben kein Geld, um die auch noch
barrierefrei zu machen.

Ist das schon lange so?

Ja. Als Franziska Giffey mal Ministerin war, hat sie ein Programm zur Barrierefreiheit aufgelegt. Zwar mit viel zu wenig Geld, aber immerhin. Das muss jetzt deutlich erhöht werden, um mehr barrierefreie Zufluchtsräume zu schaffen. Denn die Zahl der von Gewalt betroffenen Frauen steigt ja.

Wodurch?

Durch die Corona-Pandemie. Und es gibt auch geflüchtete Frauen, die von Gewalt betroffen sind. Da sind natürlich auch behinderte Frauen dabei.

Manche Leute werden sagen: Das Thema bedroht mich nicht, denn ich wohne nicht in einem Heim, ich wohne ja zu Hause …

Gewalt findet ja nicht nur in Heimen statt, auch, wenn dort die Strukturen das begünstigen. Sie findet auch in Vereinen statt. Und ganz oft handelt es sich um häusliche Gewalt. Da geht es um Fragen wie: Sucht sich ein Partner möglicherweise bewusst eine behinderte Frau, weil er dann ein Machtgefälle spürt? Oder weil er
möglicherweise meint, dass er straffrei davonkommt, wenn er gewalttätig wird? Oder meint er, die Frau im Rollstuhl kann nicht so schnell weglaufen? Ich will jetzt keine Vorwürfe in den Raum stellen. Aber man sollte um solche Fragen Bescheid wissen, um Reaktionen besser einschätzen zu können. Oder auch um Gefahrensituationen bei anderen besser erkennen und helfen zu können.

Das heißt, das Thema betrifft die ganze Gesellschaft?

Ja, klar. Das sollten alle wissen. Es ist wie beim Kindesmissbrauch: Das betrifft ja auch nicht nur Eltern von Kindern, sondern geht die ganze Gesellschaft etwas an.


Wie werden Sie da vorgehen?

Wir werden zu bestimmten Anlässen Öffentlichkeitsarbeit machen. Im Moment unterstützt das Weibernetz die Klage einer Frau, die in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen von ihrem Vorgesetzten belästigt worden ist. Das Gericht hat das Verfahren dann eingestellt, weil eine Gutachterin der klagenden Frau bescheinigt hatte, ihre Aussage sei nicht ganz ernst zu nehmen. Und da sind jetzt Juristinnen dabei, vor dem Landesverfassungsgericht dagegen zu klagen. Solche begleitenden Geschichten kann man dann in die Öffentlichkeit bringen und deutlich machen: Hier gibt es ein Problem. »Die Politiker da oben machen doch eh, was sie wollen, dagegen kann ich nichts ausrichten«, sagen heute manche Leute. Was sagen Sie denen? Das stimmt nicht. Es ist zwar ein mühsamer, ganz oft frustrierender Prozess. Aber mit ganz viel Power und langem Atem kann man etwas erreichen, wenn man dranbleibt. Es reicht nicht, einen Brief zu schreiben. Als Einzelkämpferin ist das auch zu schwierig. Man muss sich Verbündete suchen. Man kann auf kommunaler Ebene schauen: Wie laufen Entscheidungsprozesse? Einfach sich einbringen. Oder auch auf Landesebene. Oder in einer Bundesorganisation etwas machen. Es gibt viele Möglichkeiten, sich einzubringen und etwas zu erreichen.

Wie werde ich Mitglied im Weibernetz?

Anträge auf: www.weibernetz.de



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