Wir spielen mit
von Burkhard Bujotzek
Spielzeug wird endlich inklusiver. Doch der Weg dahin war lang und kriegerisch.
Der Bund mit den großen Schlüsseln scheppert laut im offenen, angenehm kühlen Treppenhaus. Die dicken Mauern der Kinderpsychiatrie lassen kaum etwas von der Vormittagshitze ins Innere durch, die an diesem Sommertag des Jahres 1895 in Rom herrscht. Die kräftig gebaute Krankenschwester bleibt nach einigen schnellen Schritten vor dem Raum 127 stehen und öffnet flink die Riegel an der schweren, grauen Holztür, die sich dann sogleich knarrend auftut. »Sehen Sie selbst, wie dumm diese Kinder sind«, schnarrt sie, in den Raum zeigend. »Sie wissen nicht einmal, dass Brot zum Essen ist«.
In dem völlig kargen Raum sitzen drei Kinder im Kreis auf dem nackten Steinboden und schibbeln sich kleine, aus Brotresten geformte Kügelchen wechselseitig zu. Doch eine junge Medizinstudentin mit hochgestecktem Haar, die nun neben der Schwester steht, erkennt es sofort: Die Kinder spielen mit Brotkrumen, weil sonst nichts zum Spielen da ist.
Einige Jahre später wird die Besucherin Buchstaben aus Schmirgelpapier basteln und sie in einer Gruppe solcher als dumm abgeschriebener Kinder einsetzen. Als diese schneller und besser das Schreiben und Lesen erlernen als eine Klasse gleichaltriger, nicht behinderter Kinder, nimmt eine pädagogische Revolution ihren Anfang, die bis auf den heutigen Tag anhält. Der Name der jungen Frau lautet übrigens Maria Montessori, eine der ersten fünf Ärztinnen Italiens. Ihr Motto lautete: „Hilf mir, es selbst zu tun.“
Lernen durch Spielen
Kinder wollen lernen, deshalb spielen sie. Im Spiel lernen sie alles: Grob- und Feinmotorik, handwerkliches Geschick, Musizieren, kognitives Wissen, das Interagieren mit anderen, und nicht zuletzt gesellschaftliche Werte und Normen. Und deshalb ist es nicht nur wichtig, ihnen genug Zeit zum Spielen und damit zum Lernen zu geben. Ihre Sicht auf und ihre Haltung zum Leben wie zu anderen Menschen wird auch durch das beeinflusst, was ihnen zum Spielen zur Verfügung steht
Von Krieg und Frieden
Was stand früheren Generationen zur Verfügung? Das historische Spielzeugmuseum München zeigt seinen Besuchern Exponate aus dem Zeitraum zwischen 1800 und 1960. »In dieser Zeitspanne ist uns bis heute kein Spielzeug mit Darstellungen mit einer Behinderung untergekommen «, so die Leiterin des Hauses, Helena Steiger. Erstaunlich, tobten in diesen Jahren in Europa doch zahlreiche Schlachten und Kriege. Wikipedia weist allein für das 19. Jahrhundert 542 davon aus. Dann folgten der I. und der II. Weltkrieg.
»Nachwuchs an kriegswilligen Soldaten«
Der Anblick von Menschen mit einer Kriegsverletzung muss allgegenwärtig gewesen sein. »Nicht aber in den Kinderzimmern«, sagt auch Christine Lumme, Leiterin des Deutschen Spielarchivs Nürnberg, die sogar fünf Jahrhunderte überblickt. Und das ist kein Zufall, sondern Ausdruck dessen, was Eltern und Gesellschaft ihren Kindern mit Spielsachen vermitteln wollten – und was eben nicht.
»Spielzeug ist politisch«
So war beispielsweise im »Arbeiter- und Bauernstaat« DDR Monopoly verboten, durfte der verhasste Kapitalismus doch nicht mit Spaß und Freude über den Gewinn emotional gekoppelt werden. Die Ausgrenzung behinderter Menschen aus den Spielkisten vergangener Jahrhunderte mag als Bemühen verstanden werden, Kinder vor der Wirklichkeit von Krieg und dem damit verbundenen Leid zu schützen. »Geschützt« wurde damit aber sicher auch der Nachwuchs an kriegswilligen Soldaten. Wer hier Zweifel anmelden möchte, schaue sich einmal das überreiche Angebot an Kriegsgerät in kindgerechtem Format aus derselben Zeit an. Auch zu empfehlen ist ein Besuch des barrierefreien Foyers des Spielzeugmuseums Nürnberg. Eine der sieben Themeninseln dort lautet: »Spielzeug ist politisch«. Im Spielzeug spiegelt sich die Gesellschaft mit ihren Werten und Ideen von Gegenwart und Zukunft. Damit ist es von Bedeutung, welche Gruppen der Gesellschaft dabei sind und wie sie dargestellt werden. So sieht Mascha Eckert, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Spielzeugmuseum Nürnberg, in der Figur des Zwerges durchaus eine Verbindung zu kleinwüchsigen Menschen. Sie werden aber eben nicht als gleichwertiges, menschliches
Subjekt, sondern als kurioses Objekt der Belustigung dargestellt.
Figuren im Rollstuhl
Da machen die Entwicklungen der letzten Jahre schon eher Mut. Auch wenn sich Lego, Playmobil und Co. nicht als Motoren einer inklusiven Gesellschaft verstehen mögen, greifen sie doch Trends in ihren Produkten auf. »Unser Spielsystem ist kein genaues Abbild einer Gesellschaft«, so Björn Seeger vom PLAYMOBIL-Hersteller, der Horst Brandstätter Group. »Wir bemühen uns, neue Entwicklungen aufzugreifen, sehen darin aber kein explizites Kriterium für die Entwicklung eines Artikels. Wir verstehen das Thema Inklusion eher als selbstverständlilchen Teil einer Spielwelt.«
Nina Angermann von Lego dagegen betont, dass »der Lego-Gruppe die Förderung von Vielfalt ein großes Anliegen« sei. Beide Unternehmen warten mit Figuren im Rollstuhl oder Hörgerät auf: Bei Lego ist es das Stadtviertel aus Set 7641 und der Stadtplatz aus Set 60271, bei Playmobil ist es eine Schule mit Einrichtung aus dem Set 9453. Auch andere Firmen bilden inzwischen die Vielfalt der Gesellschaft ab. Kaum ein anderes Spielzeug steht mehr für oberflächige Schönheit und eine sorglose Konsumhaltung wie die BarbiePuppe. Doch in ihr Luxusleben hat die Firma Martell längst auch die Lebenswirklichkeit einziehen lassen. Nun kann es auch sein, dass Ken oder Barbie auf einen Rollstuhl angewiesen sind (Foto). Miniaturen von Figuren im Rollstuhl bietet auch die Firma Dicebreaker für Tabletop Spiele unter www.dicebreaker.com an.
»Inklusion lebendig gestalten«
Adaptierte Spielwaren
Das zweite Kind von Petra Schmidt kam viel zu früh und deshalb mit einer Behinderung auf
die Welt. Bald schon zeigte sich, dass die kleine Tochter das Spielzeug des älteren Bruders nicht handhaben konnte. Und auch in den Spielwarenläden der Region war »keine wirkliche Auswahl schöner Spielsachen für Kinder mit Behinderung« zu finden, »und Hilfsmittel oder Therapiematerial, das man mit Freuden auch zu Hause nutzen konnte, erst recht nicht.« Das wollte die tatkräftige niederrheinische Mutter nicht hinnehmen und beließ es auch nicht mit einer Lösung für ihre Tochter allein.
So gründete Petra Schmidt 2011 den inklusiven Spiel- und Spaßhabladen »Ringelfee« und machte sich daran, ihre Vision umzusetzen: »Wir machen Inklusion im Spielwarenbereich lebendig.« Heute arbeiten beide Kinder im mütterlichen Betrieb mit, der sich wachsender Beliebtheit
erfreut und dank des Internets auch über die Landesgrenzen hinaus expandiert. Neben klassischen Spielen und Fördermaterial finden sich im Online-Shop vor allem von Ringelfee.de adaptierte Spielsachen. Mit Ergänzungen und kleinen Umbauten werden so handelsübliche Spielwaren für Kinder zugänglich, die beispielsweise in ihrer Feinmotorik eingeschränkt sind.
www.ringelfee.de
Biografiearbeit für Senioren
Eine ganz andere Zielgruppe hat Tina Schuster im Blick. Es sind Seniorinnen und Senioren, die mit altersbedingten Einschränkungen oder demenziellen Veränderungen umgehen müssen. Für sie entwickelt die in Pulheim bei Köln ansässige »Ein-Frau-Unternehmerin« mit ihrer Firma Haptikon Spiele und Aktivierungsmaterialien. Die Produkte regen die Sinne an, unterstützen die Freude am gemeinsamen Spielen, trainieren das Gedächtnis und leisten wertschätzende Biografiearbeit. Auch hier war es die persönliche Betroffenheit, die den Impuls auslöste. Die Großmutter fühlte sich mit den kindlichen Memory-Spielen im Altenheim reichlich unterfordert. Ihrer Empörung ist ein vielfältiges Angebot zu verdanken, das unter www.haptikon.de zu finden ist.
Farben und Braille
Auch die großen Anbieter öffnen sich angesichts des wachsenden Bedarfes. So brachte Mattel 2017 das beliebte Kartenspiel UNO für Farbenblinde heraus.
Die Spielvariante wurde in Kooperation mit Color-ADD entwickelt, einer weltweiten Organisation, die sich für barrierefreien Zugang und für Bildung der etwa 350 Millionen farbenblinden Menschen einsetzt. Color-ADD verfügt über ein eigenes Icon-System, mit dem Farben für Menschen mit dieser Behinderungsform erkennbar werden.
Der Code des Franzosen Braille ebnet Menschen mit Erblindung den Zugang zum Lesen. Aber es ist nicht einfach, diese Schrift zu erlernen.
Spielerisch fällt es leichter, dachten sich wohl auch die Entwickler der Firma Lego, und schufen ihre Steine mit Braille-Aufschrift. Der Vertrieb der Lego Braille Steine ist nicht kommerziell und wird überwiegend von der Lego-Stiftung getragen.
Gemeinsam mit allen
Inklusion meint die Gemeinschaft aller Menschen – mit und ohne Behinderung. So gilt es auch miteinander zu spielen. Verdient macht sich hier das »Spielecafé der Generationen«. Der gemeinnützige Verein vergibt seit 2019 das Generationenspiel-Siegel für Gesellschaftsspiele, die sich in besonderer Weise für das gemeinsame Spielen von Jung und Alt eignen. Bei der Bewertung durch einen Fachbeirat wird insbesondere auf die Materialqualität, die sensorische Erfassbarkeit und Komplexität geachtet. Mehr dazu findet sich unter www.jungundaltspielt.de.
Gemeinsam gespielt werden soll auch ab 2025 im Haus des Spiels in Nürnberg. Doch für die Umsetzung der erforderlichen Barrierefreiheit hofft Christine Lumme noch auf die Mittel. Da ist der Playmobil Fun-Park im nahegelegenen Zirndorf schon weiter, denn in der Piratenwelt gibt es Rolli-Flöße und der Matschtisch in der Zauberwelt der Meerjungfrauen ist auch vom Rollstuhl aus bespielbar.
Weiter sind auch einige Anbieter in den digitalen Spielwelten: Sowohl in der Repräsentation diverser Gesellschaften als auch in der barrierefreien Ausgestaltung sind positive Entwicklungen zu vermelden. Diese im Detail darzustellen heben wir uns aus Platzgründen jedoch für einen eigenen Artikel auf. Und vermelden
vorläufig das Fazit: Seit dem Besuch der Maria Montessori in der Kinderpsychiatrie hat sich viel verändert. Eine wirklich positive Entwicklung ist jedoch erst in den letzten Jahren zu erkennen. Spielen wir mit, damit es auf diesem Pfad kräftig weiter geht. Weihnachten ist eine gute Gelegenheit dafür.