»Da kamen wir auf diese verrückte Idee«
von Gabriele Wittmann
Claudiu Leverenz entwickelte eine spezielle Datenbrille
Eine leichte Brille aufsetzen, etwas mit dem Kopf nicken, und los fährt der Rollstuhl: Das kann die Sondersteuerung munevo DRIVE. Entwickelt hat sie Claudiu Leverenz mit seinem Team.
Was kann man mit einer Datenbrille alles anstellen? Dieser Frage gingen fünf Studierende während eines Projektes der Technischen Universität München nach. Einer von ihnen hatte seinen Zivildienst in einem Heim geleistet, in dem viele Rollstuhlfahrer lebten. »Da kamen wir auf diese verrückte Idee, die Google-Brille zum Steuern eines Rollstuhls zu konfigurieren«, erzählt der heute 31-jährige Wirtschaftsinformatiker Claudiu Leverenz.
Die Gruppe suchte zuerst einen Rollstuhl und Testpersonen. Und fanden diese in der gemeinnützigen Stiftung Pfennigparade. Die erklärte sich auch bereit, ihre mobilitätseingeschränkten Kunden zu befragen, welche Funktionen sie sich bei einem solchen Produkt wünschten. Ein Sanitätshaus wurde hinzugezogen, eine Reha- Abteilung, diverse Rollstuhl-Hersteller.
Die Studierenden entwickelten einen ersten Prototyp. »Mal etwas anderes«, lobte der Professor, »nicht nur eine Applikation.« Doch das Team wollte nicht ins Risiko gehen. »Viele haben gesagt: Wir wollen bei einem Unternehmen arbeiten, und nicht einer Idee hinterherlaufen«, erinnert sich Leverenz. Er war der ›last man standing«.
»Das Projekt darf nicht wieder in der Schublade verschwinden«
Erste Preise
Hier hören solche Geschichten normalerweise auf, wie zuletzt bei einem ähnlichen Projekt an der Universität Saarbrücken. Doch der junge Wirtschaftsinformatiker wollte nicht aufgeben: »Die Rückmeldungen der Menschen, mit denen wir bereits in Kontakt gewesen waren, gingen mir noch nach«, erinnert er sich. »Weil sie daran festhielten, dass sie das haben wollten.« Für ihn war klar: Das Projekt darf nicht wieder in der Schublade verschwinden.
»Wir hatten gute Expertenan unserer Seite«
Leverenz suchte sich 2017 ein neues Team. Das erste Jahr hielten sie durch, unterstützt durch das Bundesministerium für Wirtschaft, ein Gründerstipendium der TU München und etwas Geld von zwei Stiftungen.
Kam der anschließende Erfolg schließlich durch Glück oder Fleiß? »Beides«, sagt Leverenz. Das neue Team gewann den ersten Preis bei einem Wettbewerb für junge Unternehmer und erhielt während der einbrechenden Corona-Krise eine Finanzierungsrunde durch den Bayerischen Staat, kämpfte sich aber auch weiter mit Geldern aus Crowd-Funding-Aktionen und von anderen privaten Investoren, die sie bereits kannten.
Die erste große Hürde war die Zulassung als medizinisches Produkt. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis alles geregelt war. »Eine harte Zeit«, erinnert sich Leverenz. Doch auch hier suchte sich das junge Team kluge Unterstützung: Neben der TU München halfen das Klinikum rechts der Isar und Senetics GmbH aus Ansbach.
Die Mühen der Zulassung
»Mit diesen drei Experten an unserer Seite haben wir es geschafft«, erklärt Leverenz. »Bereits für die Unterstützung durch das Bundesministerium hatten wir mit Experten recherchieren müssen, was das Produkt genau kosten würde und wie es sich finanzieren könnte. Dadurch konnten wir später einen nachvollziehbaren Plan erstellen, der für die Verwirklichung der Zulassung gesprochen hat.«
Eine große Freude war es dann, als der erste MS-Patient in Bayern innerhalb von drei Monaten eine Erstattung durch seine Krankenkasse erhielt: »Wir hatten den Vorteil auf unserer Seite, weil wir oft mit der Krankenkasse gesprochen und die Lösung erklärt hatten«, erinnert sich Leverenz. »Das hat sich ausgezahlt.«
»Direkte Umwandlung in Steuersignale«
Das Produkt weiterentwickeln
Inzwischen hat die Firma munevo rund 25 Mitarbeiter aus zehn Nationen. »Das bringt für uns ein wirklich breites Spektrum an Perspektiven mit sich«, sagt Leverenz. Mindestens einmal hat eine Krankenkasse inzwischen das Hilfsmittel in den Ländern Österreich, Schweiz, Niederlande und Norwegen erstattet. »Sobald eine neue Anfrage von einem Kunden kommt, versuchen wir, zu verstehen, wie das Gesundheitssystem dort funktioniert.« Zwischen 50 und 90 Prozent liegt aktuell die Quote für die Kostenübernahme. »Überdurchschnittlich«, meint Leverenz, »weil wir den Prozess immer besser verstehen und gut vorbereiten.«
Einige Apps kommen gerade zu dem Basis- Produkt hinzu: Kunden können nun nicht mehr nur ihren Rollstuhl mit der Brille steuern, sondern auch einen Roboterarm oder ihr Handy. Sie können das Licht oder den Fernseher anschalten, allein durch ihr Nicken. Und die App-Schnittstelle sei sicher, dafür sorgen die Entwickler. Der Gründer und Chef Claudiu Leverenz will das Produkt weiterentwickeln, auch, wenn er derzeit kaum Gelegenheit findet, zum Abschalten in die Berge zu gehen. »Das Gute ist, dass wir eine Lösung anbieten, bei der man direktes Feedback von den Nutzern bekommt«, sagt der junge Firmenchef. »Man weiß, wofür man so hart arbeitet.«
Immer gut orientiert
»Die Branche an sich hatte keine wirkliche Innovation seit der Digitalisierung hervorgebracht«, sagt Claudiu Leverenz. »Das meiste davon war immer noch teilweise mechanisch, nicht wirklich digital.« Bei munevo DRIVE dagegen werden leichte Neigungsbewegungen des Kopfes durch die Brille erkannt und direkt in Steuersignale umgewandelt. Fünf Zentimeter Drehen oder Neigen des Kopfes genügen. Es ist ein rein digitales Produkt.
Die Datenbrille, die der Betrieb bei Google oder weiteren Partnern in Europa kauft und darauf seine Applikation installiert, ist leicht und komfortabel. Auch das sei ein Vorteil, erklärt der Wirtschaftsinformatiker: »Es entstehen keine Druckstellen, und die Leute sehen gut damit aus und gehen deshalb gerne damit auf die Straße.«
Am wichtigsten aber findet Leverenz die Funktion des »Feedbacks«: Die Nutzer können sich jederzeit orientieren, an welcher Stelle im Menü sie sich befinden. Denn ein Display zeigt es ihnen an, und eine Audio-Funktion liest es ihnen sogar vor: »Fahren, Einstellungen, Add-Ons…«
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