Der Phoenix aus Graubünden

von Hilmar Schulz

Rainer Küschall
Foto: privat

Ein Schweizer erfindet den Aktivrollstuhl Fuse R

Rainer Küschall hat den Rollstuhl revolutioniert. Sein Traum war das nicht, viel lieber hätte das Schweizer Multitalent Flugzeuge entworfen. Doch ein Sprung ändert alles: 14 Jahre lebt er isoliert in Krankenhäusern oder Invalidenheimen. Und kämpft sich dann mit übermenschlichem Willen nach oben: als Athlet, als Erfinder, als Unternehmer. Heute sagt er: »Man hört nie auf zu lernen. «

Die Geschichte des Rollstuhls lässt sich in die Zeit vor und die Zeit nach Küschall einteilen: Im Jahr 1976 entwirft der Schweizer den ersten minimal frame-Rollstuhl, ein Gefährt, das völlig anders war als alles Dagewesene. Und das über Nacht die Vorstellung von einem Rollstuhl änderte.

Aufgewachsen ist Rainer Küschall im schweizerischen Graubünden, im Bergdorf Flims, das als Ski-Ressort bekannt ist. Er lebte bei einer Pflegefamilie und im Internat, seine Eltern habe er eigentlich gar nicht gekannt. Wie es dazu kam, darüber möchte Küschall nicht sprechen. Extrem sportlich sei er schon immer gewesen, habe als 12-Jähriger bereits die Berge bestiegen, er spielte Tennis und fuhr mit 15 die Schweizerische Bündner Ski-Rennfahrer-Meisterschaft. Das war kurz vor seinem Unfall.

Es war – wie so oft – der Sprung in einen Swimming-Pool. Minutenlang schwamm er danach zappelnd in Bauchlage, den Kopf unter Wasser. Eine Freundin schaute zufällig aus dem Fenster. Sie haben ihn dann am Kopf herausgezogen – »da hat’s erst richtig geknackt«, sagt Küschall lakonisch. Nach vier Stunden kam die Ambulanz, hinunter nach Chur ins Spital verging nochmal eine Stunde. Aber da war er schon bewusstlos.

»Eine Freundin fand dann den Ausweg«

Mann im Rollstuhl beim Wettkampf
Foto: privat

Küschall überlebte, trotz drei Minuten ohne Sauerstoff, trotz Genickbruch. Doch viel tun konnte man damals, Anfang der 1960er Jahre in der Schweiz, nicht. Es gab für Querschnittgelähmte praktisch keine Rehabilitation, die meisten verstarben bald. Da man Küschalls Bett brauchte, wurde er in ein Nonnenspital in den Bergen verlegt. Zwei Jahre lag er auf dem Rücken, ausgeliefert und war am Ende »steif wie ein Brett«. Lebte aber noch.

Es war eine Freundin, die den Ausweg fand: Dr. Ludwig Guttmann. Der bedeutende jüdische Neurologe und Neurochirurg war 1939 vor der antisemitischen Verfolgung nach England geflohen und hatte dort ein revolutionäres urologisches Verfahren entwickelt. Bis dahin starben nach einer Querschnittlähmung vier von fünf Betroffenen binnen eines Vierteljahres, die Blasendysfunktion führte zu tödlichem Nierenversagen. Guttmann sorgte für eine regelmäßige Katheterisierung und rettete so zehntausende Menschenleben.

Als Küschall in England ankam, sei er mental »unter null« gewesen. Körperlich mehr tot als lebendig, allein dadurch, dass sie ihn auf die Seite wendeten, kollabierte sein Kreislauf. Guttmann machte ihm bescheidene Hoffnungen: Er werde ihn so weit remobilisieren können, dass er in einem Rollstuhl sitzen könne. Doch werde er sein Leben lang bei allem auf Hilfe angewiesen sein und sich nicht alleine bewegen können. »Das war meine Perspektive.«

Was einem Menschen möglich ist

Es kam anders. Seine Physiotherapeutin ließ ihn eines Abends im schweren Rollstuhl auf dem Gang stehen. Irgendwann ging das Licht aus, Küschall war alleine: »Da war wieder dieses Gefühl von Verlassenheit, Hilflosigkeit, Panik. «Er versucht das Unmögliche, mit den Daumen in den Speichen schiebt er sich Zentimeter für Zentimeter den langen Gang entlang, »das Blut ist mir aus den Fingern getropft«.

Als seine Physiotherapeutin ihn am nächsten Tag aufstellt, versucht er sie zu würgen – und sie reagiert mit einem Lächeln. Sie habe wohl gespürt, dass noch ein Wille in ihm stecke und ihn herausgefordert. Zum ersten Mal seit Jahren habe er etwas gewollt.

»Dann kam der Tag, wo ich merkte, es geht vorwärts. Und ich muss mich ganz schnell entscheiden.« Nun begann Küschall mit Sport. Bogenschießen klappte nicht, aber er brilliert im Tischtennis.

»Der Athlet gewinnt auf allen Distanzen«

Danach verlegt er sich auf Rollstuhlrennen. Er schafft es nach ganz oben: Der Athlet gewinnt auf allen Distanzen insgesamt 21 paralympische Medaillen, fünf Mal erringt er den Weltmeistertitel. Für den Rollstuhl-Marathon braucht er sechs Jahre, dann ist er Weltmeister. Nachdem er mit dem Rollstuhlsport aufhörte, kamen Autorennen, heute fährt Küschall noch Rallyes.

Es sei einfach immer weitergegangen. Wie? Küschall denkt nach: Was einem Menschen alles möglich ist, habe nichts mit Glaube oder Aberglaube zu tun, sondern mit Tiefensensibilität.

Rollstuhl auf einem Podest, daneben einige Männer
Foto: MEYRA GmbH

»Durch den Sport habe ich einen Bezug zu meiner tiefsten Intuition bekommen.« Besonders durch den Marathon mit der Zielsetzung, den langen Vorbereitungen, all dem Leiden, Kämpfen, Durchhalten, Nichtaufgeben: »Man ist nicht mehr normal«, sagt Rainer Küschall.

Dem Sport habe er alles zu verdanken, auch seine Erfolge als Ingenieur und Unternehmer. Seit 1976 tüftelte Küschall zunächst im eigenen Wohnzimmer an der Verbesserung von Rollstühlen. Bis dahin waren es im Prinzip Gestelle mit Rädern, Ungetüme, die oft nur von einer anderen Person geschoben werden konnten. Küschall reduziert das Gerät radikal, halbiert Ausmaß und Gewicht, steigert die Beweglichkeit. Für die weitere Produktion gründet er eine Firma – und arbeitet wie besessen.

Das technische Know-how erwarb Küschall mit der Zeit, weil er immer weiter ins Detail, in die Präzision ging. »Man hört nie auf, zu lernen.« Dabei habe er seine Produkte nie angepriesen oder Inserate und Marketing verkauft. Denn er habe gewusst: »Wenn Du gut bist, bekommst Du die Aufmerksamkeit gratis.«

»Das Ziel war ein ultimativer Aktivrollstuhl«

Bei seiner größten Erfindung hilft der Zufall. Eines Abends beim Sonnenuntergang beobachtet er Hängegleiter: Fluggeräte, die nur aus Flügeln und einem elastischen Rohr bestehen. »So kam ich auf die Idee, für die gesamte Sitzform eines Rollstuhls ein einziges gebogenes Rohr zu verwenden.« Küschall erkennt die reine Funktion und lässt alles nicht Notwendige weg; übrig bleibt ein minimaler Rahmen ohne Unterstruktur, der minimal frame, hinten vollkommen starr, vorne dagegen elastisch – ideal, um Bodenunebenheiten zu nivellieren. Gleichzeitig ist die Sitzposition vielfältig und simpel verstellbar.

Immer im Morgen gelebt

Das neue Modell ändert schlagartig die Idee vom Rollstuhl. Der Competition ist leicht und äußerst beweglich; das Gerät tritt optisch in den Hintergrund, der Mensch nach vorne. Und in seiner Schlichtheit wirkt der Stuhl sehr ästhetisch. Das Design begeistert und schafft es 1986 sogar ins Museum of Modern Art.

»Leider habe ich es nicht patentieren lassen.« Seither wurde es tausendfach kopiert. Küschalls Unternehmen wächst trotzdem. Und das, obwohl er »als Firmengründer keine Ahnung von nix« hatte. Aber er habe stets genau gewusst, was und wen er braucht. In acht Jahren entstehen sieben Firmen, in den USA, Südamerika, Singapur, Australien, mit 280 Mitarbeitern. Spielend leicht sei das gewesen, immer im Morgen habe er gelebt. Und dabei gar nicht mehr gemerkt, wie die Lebenszeit vergeht, stets mit dem Gefühl, nicht versagen zu dürfen, weil sonst alles kollabiert.

Rollstuhl am Steeg vor Bergpanorama
Foto: MEYRA GmbH

»So habe ich bis zu meinem großen Zusammenbruch gelebt.« Eines Tages plündern seine chilenischen Partner die Fabrik. In der Folge kollabiert die gesamte Firmengruppe. Küschall reagiert mit einem totalen seelischen und körperlichen Zusammenbruch. Nach einer falschen Medikation fällt er ins Koma.

Es dauert lange, bis er wieder hochkommt. Erst nach drei Jahren konnte er erstmals wieder selbst Auto fahren, ganz erholt habe er sich bis heute nicht. Dennoch fing er wieder an zu arbeiten, zunächst als Angestellter in dem Unternehmen, das er einst gegründet hatte. Vor eineinhalb Jahren kam er dann durch einen Headhunter zu Meyra. »Ich habe drei Jungs von meinem Team mitgenommen und dann haben wir das High active-Programm gestartet.«

Das Ziel war, einen ultimativen Aktivrollstuhl zu konstruieren. »Wir haben unsere ganze Erfahrung eingebracht und alles hinterfragt.« Das Ergebnis ist der Fuse R (für Fusion von Küschall und Meyra, R für rigid). Leichter geworden sei dieser Stuhl nicht, aber noch einmal besser als alle Vorgänger. Vor allem der Sitzkomfort, die Proportionen, die gute stabile Positionierung. Bei Fragen zu seinem Privatleben bleibt Rainer Küschall zurückhaltend. Er lebt heute in der Schweiz, seiner Heimat, bei Basel in einer eigenen Wohnung mit ausreichender Betreuung. Und mit täglichen Schmerzen und dieser »emotionalen Fraktur«, die nach dem Zusammenbruch zurückblieb. »Ich versuche einfach, weiterhin das beste aus dem Leben zu machen.«

Und wenn er einen Wunsch offen hätte? »Merkwürdigerweise habe ich nie erreicht, was ich eigentlich haben sollte: ein Häusel am Meer«, antwortet der 76-Jährige spontan, »Ich liebe das Meer.« Er habe verschiedene Träume, fliegen lernen wollte er schon immer, da sei er gerade dran, »aber ob ich’s auch erreichen kann…«.

Im Alter bemerke er jetzt allerdings auch diese klare pragmatische Vernunft und die frage ihn: Was ist im Prinzip der wichtigste Wunsch – und nicht der schönste? »Und ich glaube, der wichtigste Wunsch wäre, ohne Schmerzen sterben zu dürfen. Ohne Leiden.«

MEYRA Group GmbH

Meyraring 2
32689
Kalletal

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