Das Recht folgt der Politik: Ein Anwalt verklagt das Verkehrsministerium

von Gabriele Wittmann

Mit der Kanzlei »Menschen und Rechte« setzt sich der Journalist und Anwalt Oliver Tolmein seit Jahrzehnten gegen Diskriminierung und für die Rechte von Menschen mit Behinderung ein. Wir sprachen mit ihm über sein gesellschaftliches und juristisches Engagement. Zunächst haben wir ihn gefragt:

Sie vertreten aktuell eine Klage, die die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben (ISL) gegen die Bundesrepublik Deutschland eingereicht hat. Worum geht es da genau?

Oliver Tolmein: In der Klage geht es darum, dass festgestellt werden soll, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht genug dafür tut, dass die Bahn angemessene Vorkehrungen ergreift, um Menschen mit Behinderung die diskriminierungsfreie Nutzung der Bahn zu ermöglichen.

Wie wir hören, kann man gegen die Deutsche Bahn nicht direkt klagen, weil Privatunternehmen noch nicht vollumfänglich zu Barrierefreiheit verpflichtet sind. Sie gehen also den Umweg über die Behörden?

Genau. Die Bundesrepublik Deutschland ist Eigentümerin der Deutschen Bahn. Und über das Eisenbahnbundesamt hat sie eine Aufsichtsstelle. Das Verkehrsministerium als oberste Bundesbehörde ist dafür zuständig, dass das Eisenbahnbundesamt angemessene Vorkehrungen für die Barrierefreiheit von den einzelnen Unternehmen verlangt. Dazu gibt es eine rechtliche Verpflichtung.

Was könnte das bewirken?

Das Ergebnis wäre günstigstenfalls, dass ein Gericht am Ende sagt: »Die Bundesrepublik nimmt ihre Möglichkeiten nicht wahr, als vorgesetzte Dienststelle des Eisenbahnbundesamtes bestimmte Dinge zu veranlassen, damit die Bahn barrierefreier ist.«

Was hätte das für Folgen?

Dann wäre die Bundesrepublik – und damit das Verkehrsministerium – dazu verpflichtet, etwas zu verändern. Also zum Beispiel dem Eisenbahnbundesamt aufzugeben: »Ein Bahnwaggon, den Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer nicht benutzen können, darf nicht zugelassen werden.« Oder: »Die Regelung, dass man vor sechs Uhr morgens keine Einstiegshilfe auf Bahnhöfen bekommt, ist unzulässig.«

Das klingt nachvollziehbar. Wie schätzen Sie selbst denn die Chancen für die Klage ein?

Es ist ein Versuch, mit rechtlichen Mitteln die Barrierefreiheit der Bahn zu erhöhen. Angesichts der Klimakrise entsteht vielleicht auch mehr Offenheit, auf so eine rechtliche Ansage politisch kreativ zu reagieren und tatsächlich eine Menge zu verändern.

Das klingt hoffnungsfroh. Worauf stützen Sie die Klage?

Der Anspruch des Bundesgleichstellungsgesetzes ist es, dass öffentliche Räume und Transportmittel gleichberechtigt diskriminierungsfrei zugänglich sind. Das heißt, dass alle Menschen zu allen Zeiten, in denen die Bahn betrieben wird, in die Bahn hineinkommen, fahren, und aus der Bahn auch wieder aussteigen können müssen. Das heißt auch: Wenn sechs Rollstuhlfahrer zusammen mit der Bahn fahren möchten, dann kann die Bahn nicht mehr sagen: »Ihr könnt nur in drei aufeinanderfolgenden Zügen fahren, weil mehr Behindertenplätze haben wir nicht.«

Das bisherige Verkehrsministerium hat aber zuletzt betont, dass es die Umsetzung einer Einstiegshilfe zu allen Zeiten und an allen Bahnhöfen »nicht für angemessen und auch nicht für umsetzbar« hält. Was halten Sie von dieser Antwort?

Was ist umsetzbar? Das, was man umsetzten möchte. Und es ist ja nicht so, dass die Bahn ein mittelständisches Unternehmen wäre, von dem man befürchten muss, dass es in die Insolvenz geht. Die Bahn macht es sich trotzdem einfach und sagt: Es geht nicht. Da unterliegt sie einer groben Fehleinschätzung. Andere Länder schaffen es auch. Das Verkehren im öffentlichen Raum muss diskriminierungsfrei möglich sein. Und dann muss man es eben möglich machen.

Sie sind auf vielen sozialrechtlichen Feldern aktiv. Sie engagieren sich im Vorstand des Instituts für Konfliktforschung oder in der Akademie für Ethik in der Medizin. Welches der vielen Felder ist Ihnen besonders wichtig?

Das wichtigste Feld, auf dem ich mich engagiere, ist die Anti-Diskriminierungsrechtsanwendung. Wenn ich nicht in die Bahn steigen kann, und damit nicht zum Parteitag gelangen kann oder in den Bundestag, dann kann ich nicht wirken, wie andere Menschen wirken können. Das ist keine kleine Sache, bei der man einwenden könnte: Ob jemand eine Stunde früher oder später ankommt, spielt doch keine so große Rolle. Am Ende spielt es eine ganz zentrale Rolle: Wird hier eine Menschengruppe ganz systematisch von bestimmten Positionen ausgeschlossen?

Bevor Sie Anwalt wurden, haben sie viele Jahre als Journalist gearbeitet. Sie waren Parlamentskorrespondent bei der taz und Redakteur bei der Zeitschrift Konkret. Warum haben Sie im Alter von 35 Jahren noch Jura studiert?

Ich war es ein bisschen leid, Geschichten von Leuten zu erzählen, die glauben, dass man ihnen damit hilft und dass sie das unterstützt. Ich merkte, dass sich das häufig gar nicht bewahrheitet. Das war der eine Punkt

Und der andere?

Das war die Entwicklung in den Medien. Ich habe damals beispielsweise sehr viel für das »Kritische Tagebuch« beim WDR gearbeitet. Da konnte man 1984 noch Beiträge bis zu 18 Minuten Länge produzieren, oder auch Glossen von zwei Minuten. Man hatte also eine Vielfalt von Ausdrucksformen. Als ich 1995 aufgehört habe, waren die Beiträge maximal drei Minuten lang. Und die ganze Vielfalt in der Sendereihe gab es nicht mehr. Diese Entwicklung hat mir nicht gefallen. Und ich wollte davon nicht abhängig sein. Dann habe ich Jura studiert.

Haben Sie dem Journalismus ganz abgeschworen?

Heute, nach 15 Jahren anwaltlicher Tätigkeit, würde ich tatsächlich gerne wieder mehr schreiben. Und zwar nicht nur als Jurist. Ich bin ja nie ganz rausgegangen aus dem Journalismus, sondern habe immer auch für die »Konkret« oder die »Jungle World« geschrieben. Das werde ich wieder ausbauen. Vielleicht komme ich künftig zu einem Verhältnis »halbe-halbe«…

Seit den 1980er Jahren engagieren Sie sich nun für Geflüchtete und für Menschen mit Behinderungen. Wird man nicht müde mit den Jahren, weil man nicht so viel erreichen kann, wie man sich wünscht?

Müde bin ich manchmal, wenn ich lange gearbeitet habe. Ansonsten nicht. Ich bin ja zu meinen Themen gekommen über Menschen. Und zwar Menschen, mit denen ich befreundet war – und bin. Das waren damals auch viele Menschen mit Behinderung, die ich in Frankfurt kennengelernt habe. Ich habe am Theater gearbeitet und die »Goldene Krücke« verliehen. Und da bin ich »hängengeblieben« mit Herz und Verstand.

Was heißt das?

Als Mensch ohne Behinderung gab es für mich eine Reihe von Konflikten, aus denen ich viel gelernt habe: Was ist Diskriminierung? Wie wird das wahrgenommen? Warum muss man Unterschiede anerkennen und, obwohl man Unterschiede anerkennt, trotzdem gleiche Rechte verlangen?

Zwanzig Jahre später haben sie eine Kanzlei mit dem Schwerpunktthema gegründet …

Als ich 2005 angefangen habe, hatte ich mich erkundigt bei Freunden und Freundinnen mit Behinderung: Wie findet ihr das, wenn ich als Mensch ohne Behinderung eine Kanzlei aufmache und sage: Ich will mich als Schwerpunkt für Menschen mit Behinderung einsetzen, ist das ok? Ist das nicht ok? Damals haben alle gesagt: Das ist völlig ok, denn es gibt kaum Anwälte mit Behinderung.

Ist das heute anders?

Ja, mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich zum Teil auch zusammenarbeite. Denen gebe ich Mandate, und die schicken umgekehrt Mandate zu mir. Also ich denke: Wenn ich jetzt irgendwann weniger tun werde, dann wird es genügend Leute geben, die auch eigene Erfahrungen haben.

Sie haben also nicht resigniert?

Nein, dazu gibt es keinen Anlass. Man kann mit dem Recht nicht alles bewirken. Das Recht folgt der Politik. Manchmal geht es ihr auch voraus, aber es kann sie nicht ersetzen. Wenn es keinen politischen Protest gibt, dann kann man nicht mit dem Recht Protest simulieren. Aber das Recht ist ein Baustein. Und wir haben rechtlich schon eine ganze Menge bewirkt.

Woran denken Sie da?

Zum Beispiel an Theresia Degener, die die UN-Behindertenrechtskonvention mit ausgearbeitet hat. Das »UNO-Jahr der Behinderten« war 1981 eine grauenvolle Veranstaltung. Und heute ist die UN-Behindertenrechtskonvention eines meiner wichtigsten juristischen Instrumente. Da hat sich schon vieles geändert.

Was könnte man sich noch wünschen?

Man könnte sich als Nächstes wünschen, dass Regelungen aus dem Umweltrecht auch im Behindertenrecht greifen. Dass beispielsweise ein Behindertenverband nicht erst den Umweg über die Bundesrepublik Deutschland nehmen müsste, sondern direkt gegen die Bahn klagen könnte. Wie es jetzt beispielsweise bei der Klimaklage gegen VW geschieht.

Sie sprechen von der Möglichkeit, einen Konzern direkt zu verklagen, wie es die Anwältin Roda Verheyen gegen VW getan hat …

Genau. Das wäre wunderbar. So weit sind wir noch nicht. Aber vielleicht kommen wir so weit, da bin ich ganz zuversichtlich. Ich bin mit Roda Verheyen im Austausch, wir diskutieren viel. Und wir haben ähnliche Ansätze. Wir haben ja auch bei einzelnen Mandanten von mir gegen Beschlüsse von Sozialgerichten beim Bundesverfassungsgericht Klage eingereicht und sind erfolgreich damit gewesen. Also: Wir arbeiten uns da vor.

Was können die Leser für diese aktuelle Feststellungsklage tun? Wie kann man euch unterstützen?

Sich nicht damit zufriedengeben, wie die Verhältnisse sind. Sich nicht abbügeln lassen, wenn es seitens der Bahn heißt: »Morgens um fünf Uhr können Sie noch keine Einstiegshilfe erhalten!« Oder: »Sechs Menschen im Rollstuhl können nicht gleichzeitig Bahn fahren!« Man kann sich gegen die Bahn direkt wehren, wie Kay Macquarrie …

… der Aktivist, der Verstöße immer bei den RefundRebels meldet …

Genau. Kay Macquarrie hat eine Vielzahl von Klagen und Beschwerdeverfahren eingereicht, in einigen habe ich ihn auch vertreten. Also: Man kann das Thema immer wieder mit neuen Skandalen und Skandälchen am Leben erhalten. Das ist ein ganz zentraler Punkt. Diese Energie immer wieder aufzubringen, es sich nicht gefallen zu lassen. Und wenn man sie nicht selbst aufbringt, was ja auch sein kann, dann kann man zumindest versuchen, andere darin zu unterstützen.

Über folgende Kampagnen-Seite können Sie für die aktuelle Bahn-Klage der ISL spenden:

www.betterplace.org/de/projects/102522-jederzeit-mit-bahn

Bei nicht eingehaltenen Zusagen zu Einstiegshilfe, barrierefreiem WC, Sitzplatz oder Wagen kann jeder Entschädigung beantragen über die Dienstleister »RefundRebels«:

www.refundrebel.com
Reiter: »Barrierefreie Bahn«

Kommentare

Dorothea Isserstedt

01. Juni 2022 um 09:34 Uhr

Ach ja, die Bahn.......da haben wir auch so einiges erlebt.......schon länger her. Was den Komplex noch schwieriger macht, ist ja die Tatsache, dass die Hilfsmittel zur Fortbewegung heutzutage sehr ,sehr vielfältig sind. Doch wie ich das so sehe, hat das die Deutsche Bahn überhaupt nicht im Fokus. Mit viel Mühe gelang uns in den 1990er Jahren mehrmals eine Fahrt zu organisieren, die die Mitnahme unseres schönen ,großen Tandem-Dreirads erlaubte. Die Rückfahrt war eine schwere Fahrt mit Hindernissen. Sie ist letztendlich nur gelungen dank der Kulanz der Bahnmitarbeiter. Wir mussten ja heimkommen. Technisch ist das an sich kein Problem, aber man muss es eben wissen und die Technik auch einsetzen wollen. Heutzutage dürfen wir ja nicht einmal das Tandem - Dreirad mitnehmen in den Regionalzug. Man könnte ja über unser Rad stolpern oder es kippt um bei Vollbremsung..... Technisch sollte es kein Problem sein, wenn man auf besonders beliebten Strecken die aus DDR Zeiten bekannten Halbgepäckwagen einsetzen würde. Vielleicht hätten dann auch Leute mit anderen mir nicht bekannten Sonderfahrzeugen eine Chance auf Mitfahrt. Freundliche Grüsse D.Isserstedt

Kay Macquarrie

07. März 2022 um 11:29 Uhr

Danke für diesen wichtigen und guten Artikel! In erster Linie sehe ich mich übrigens nicht als "Aktivist". Eher als Mensch, der es liebt mit der Bahn zu reisen und öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Der (meist) schönen Begegnungen wegen :-)

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