Ich hab’ da mal ’ne Skizze gemacht: Jens Conrad entwirft günstige Küchen- und Alltagshelfer
von Hilmar Schulz
Warum müssen barrierefreie Möbel eigentlich immer so teuer sein? fragte sich ein Fabrikant. Und begann, nach einfachen Lösungen für seine Alltagsprobleme zu suchen. Das Ergebnis ist bislang ein unterfahrbarer Tisch, ein Fensteröffner und ein Brett für den Mülleimer. Das meiste davon zum Nachbauen.
»Man muss den Zufall provozieren.« Jens Conrad spricht den Satz aufgeräumt aus. Dennoch klingt es irgendwie angriffslustig. Vor allem hat der Mann Durchhaltevermögen. Sonst hätte er den weiten Weg nicht geschafft, seit ihm vor Jahren zum ersten Mal das Gehen schwerfiel. Nach einem Ski-Ausflug versagten die Beine gar ganz. 2015 dann die Untersuchung, Ergebnis: Multiple Sklerose.
»Das war schon ein Schockmoment.« Jens Conrad denkt an die Diagnose, die seinem Leben eine Wendung gab. Der mittelständische Unternehmer hat Familie, gemeinsam mit seiner Frau führt er in der nordrhein-westfälischen Provinz einen eigenen, soliden Betrieb in dritter Generation. Der stellt vor allem Metallteile für Küchenmöbel her.
Der Magen will gefüllt sein
Dass er die Firma einmal führen würde, war alles andere als klar. »Wenn Sie in einem Unternehmerhaushalt aufwachsen, gibt es morgens, mittags und abends kein anderes Thema als die Firma.« Als Jugendlicher stinkt ihm das alles. Jens Conrad lässt sich zum Werkzeugmacher ausbilden, verdient gut genug, um ausziehen zu können. Bald gewinnt sein Pragmatismus die Oberhand. Er hängt ein kaufmännisches Studium an. 2002 übernimmt er dann den elterlichen Betrieb. »Von irgendetwas muss der Magen ja gefüllt werden – ich brauchte Geld.«
Auch mit seiner MS-Diagnose versucht Conrad nüchtern umzugehen. »Ich habe mich nicht aufgegeben, sondern entsprechend meiner Einschränkungen versucht, Lösungen herbeizuführen.« Ein wesentlicher Ansporn waren dabei seine damals 9 und 13 Jahre alten Töchter: »Ich musste mich überwinden, nicht nur für mich selbst, sondern auch für die Familie.«
Erprobt, einfach, günstig
Als Chef zieht sich Jens Conrad aus dem Tagesgeschäft zurück. Er übergibt die Vertriebsleitung, delegiert vieles. Und erlebt den Alltag neu. Seit er im Rollstuhl sitzt, stößt er überall mit den Knien an Tischkanten. »Zu Hause oder im Restaurant sitzt Du plötzlich nicht mehr am, sondern neben dem Tisch.« Also beginnt er, seine private Wohnsituation zu verändern.
Zuerst baut Jens Conrad seinen Schreibtisch um, dann den Esstisch. Er beseitigt Hindernisse, macht Waschbecken in Badezimmer und Küche unterfahrbar, verbreitert Durchgänge. In der Firma legt er die Besprechungstische höher, installiert einen gebrauchten Treppenlift, die Teeküche bekommt neue Tischplatten mit Ceranfeldern.
Wie Schuppen fällt es ihm von den Augen: »Mensch, diese Probleme habe ich doch nicht exklusiv! Immerhin gibt es rund 1,5 Millionen Rollstuhlfahrer allein in Deutschland.« Jens Conrad entwickelt fortan neue Produkte. Menschen im Rollstuhl können kaum Fenstergriffe erreichen, also entwirft er einen Fensteröffner. Zu Gute kommt ihm dabei der eigene Betrieb. »Ich habe das Riesenglück, dass ich zu meinem Werkzeugmacher oder Produktionsleiter fahren und sagen kann: Ich hab’ da mal ’ne Skizze gemacht. Baut mal!« Zwar sind bereits ähnliche Produkte auf dem Markt. Doch die gibt es nur auf Rezept und für viel Geld. Zudem seien sie meist kompliziert, schwer und teuer, sagt Conrad. Er sieht sich im Wettbewerbsvorteil, weil: erprobt, einfach, günstig.
Ein rollender Messestand
Vor zwei Jahren folgte die nächste Prüfung: Ein neues Medikament führte zu einem Herzinfarkt und einer Netzhautablösung. Conrad braucht ein Jahr, aber er kämpft sich langsam zurück.
Mittlerweile hat er mit ProVice eine eigene Firma für den neuen Geschäftszweig gegründet, jetzt baut er seinen Webshop aus. Dort will er nicht nur seine Produkte vermarkten. Er will eine Plattform aufbauen für Anregungen, Ideen, Bauanleitungen und Videos. Denn viele Lösungen sind kleine Eingriffe mit großer Wirkung. Etwa der Hundenapf-Wandhalter: ein Brett auf halber Höhe, das für den Hund bequem, für Herrchen überhaupt zu erreichen ist.
Woher hat Conrad seine Resilienz? »Ich glaube, da schlage ich nach meinem Großvater.« Kennengelernt habe er ihn eigentlich nicht. Seine Erinnerungen, das seien Baby- und Kleinkindfotos mit ihm. Aber der Großvater hatte auch diese Widerstandskraft. Der hatte Stalingrad überlebt. Und als er Jahre später zu Hause eintraf, war er bereits für tot erklärt worden und enterbt. »Und was macht der? Er gründet als erstes seine eigene Firma!«
Conrads nächstes großes Projekt klingt zunächst paradox: An einem rollstuhlgerechten Tiny House arbeitet er, gemeinsam mit einem Pionier der Bewegung in Deutschland. »Viele denken, ein Rollstuhlfahrer brauche eigentlich viel Platz. Aber ich habe ja noch eine Restgehfähigkeit – da sind kleine, gut aufgeteilte Räume besser, denn ich kann mich abstützen und entlanghangeln.« Im Tiny House brauche er nachts keinen Rollstuhl, um auf die Toilette zu kommen. »Ich kann mich aus dem Bett rausplumpsen lassen und bin im Badezimmer.«
Mit dem Projekt kann Conrad zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Seine Ideen für Küche, Bad und Bett will er nicht nur im Web-Shop präsentieren, sondern auch live vorführen. »Wenn ich all diese Lösungen in meinem Tiny House installiere und das Ganze auf einen Anhänger stelle, dann habe ich einen rollenden Messestand!« Und dazu sein ganz persönliches Reisemobil.
18. Oktober 2021 um 20:30 Uhr
Chapeau! Schön so etwas tolles von dir zu lesen