Es geht nicht um etwas Nettes: Jürgen Dusel zur nationalen Umsetzung von EU-Recht

von Gabriele Wittmann

Die Lebenssituation für knapp dreizehn Millionen Menschen zu verbessern: Daran arbeitet der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel. Wir sprachen mit ihm über geplante Gesetze zum Thema »Barrierefreiheit«. Welche Prozesse werden 2021 die Diskussion bestimmen? Worum geht es beispielsweise bei der Forderung, private Anbieter zu mehr Barrierefreiheit zu verpflichten?

Jürgen Dusel: Wir leben in der sozialen Marktwirtschaft. Und da regelt der Artikel 14 des Grundgesetzes, dass das Privateigentum garantiert ist in der Bundesrepublik. Das ist auch gut und richtig so. Aber die meisten Leute lesen nur diesen ersten Absatz des Artikels. Doch im zweiten Absatz spielt die Musik: Da steht nämlich »Eigentum verpflichtet«, und dass sein Gebrauch auch dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll.

Wie deuten Sie das?

Wenn da drinsteht, dass Eigentum verpflichtet, und dass sein Gebrauch auch dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll, dann müssen mit dieser »Allgemeinheit« auch wirklich alle gemeint sein. Und das heißt, es muss auch für Menschen mit Behinderungen oder mit einer Beeinträchtigung gelten. Deswegen setze ich mich so sehr dafür ein, dass wir auch private Anbieter verpflichten, barrierefreie Produkte oder Dienstleistungen herzustellen.

Bisher wurde das Thema ja stark auf den öffentlichen Bereich fokussiert.

Menschen leben aber nicht nur im öffentlichen, sondern sie leben auch im privaten Bereich. Und da stellt sich die Frage: Komme ich ins Restaurant? Komme ich ins Kino? Barrierefreiheit hat auch eine tiefe soziale Dimension.

Barrierefreiheit wird oft aber noch negativ konnotiert. Nach dem Motto: Jetzt müssen wir auch noch barrierefrei bauen.

Wer heutzutage etwas mit Barrieren baut, ist unprofessionell. Ich möchte, dass Barrierefreiheit als »Qualitätsstandard« für eine offene und moderne Gesellschaft begriffen wird: Wir bauen barrierefrei, nachhaltig, klimaneutral.

Wie sehr rennen Sie damit offene Türen ein? Bereits vor einem Jahr haben Sie diese Punkte in Ihren Empfehlungen der Bundesregierung übergeben …

Das Thema ist natürlich ein »dickes Brett«. Aber wir erleben gerade, dass wir dabei sind, den European Accessability Act (EAA) in nationales Recht umzusetzen. Und das bietet jetzt die Chance, in einem Gesetzgebungsverfahren sicherzustellen, dass Dienste und Güter tatsächlich barrierefrei werden. Mein Arbeitsstab und ich, wir setzen uns stark dafür ein. Wir werden ja am Gesetzgebungsverfahren beteiligt.

Bei dieser EU-Richtlinie geht es darum, dass ab 2025 auch private Güter und Dienstleistungen barrierefrei sein sollen …

Ja. Es geht unter anderem um Software und Hardware. Stellen Sie sich einen Bankautomaten vor: Der muss zum Beispiel für jemanden, der im Rollstuhl sitzt, unterfahrbar sein.

Die Richtlinie sieht aber auch Ausnahmen vor. Für Selbstbedienungsautomaten beispielsweise heißt es da: Alte Geräte können noch weiterverwendet werden bis zu zwanzig Jahre nach ihrer ersten Einsetzung. Das bedeutet doch: Firmen könnten bis 2024 noch seelenruhig altmodische Check-In-Terminals und Fahrkarten-Automaten installieren, und Menschen im Rollstuhl müssen dann bis 2044 warten, bis sie eine neuere Generation bekommen, die sie auch bedienen können?

Das ist das Risiko, das ich auch sehe. Man muss verhindern, dass zum 31. Dezember 2024 noch ein schlechter Bankautomat angeschafft wird, der dann noch »ewig« weiterfunktioniert.

Wie wollen Sie das verhindern? Die Wirtschaft wird das tun, was am kostengünstigsten ist …

Man kann das schon verhindern. Und zwar, indem wir in Deutschland besser sind als die europäische Richtlinie. Man kann von diesen definierten Mindeststandards »ins Positive abweichen« und im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens die Regelung tatsächlich schärfer formulieren. Parallel muss man der Wirtschaft klar machen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die sich im demografischen Wandel befindet.

Wie erreichen Sie das?

Ich habe neben Informationsveranstaltungen ganz viele Gespräche mit Verbänden wie den Arbeitgeberverbänden, bei denen ich diese beispielsweise darauf einstimme, dass in Zukunft aufgrund des demografischen Wandels immer mehr Menschen mit einer Behinderung leben werden. Und so merkwürdig das klingen mag: Unternehmen sind gut beraten, sich darauf einzustellen.

Dann hoffen wir, dass Ihnen das mit Ihrem Arbeitsstab gelingt. Einiges konnte ja bereits durchgesetzt werden, beispielsweise die Richtlinie zur Barrierefreiheit von Webseiten …

Ja. Seit September 2020 müssen wirklich alle Webseiten von öffentlichen Stellen barrierefrei sein und auch einen niedrigschwelligen Feedback-Mechanismus für die Nutzenden haben, wenn etwas nicht barrierefrei sein sollte. Für mobile Anwendungen läuft die Frist im kommenden Sommer aus. Das war bereits ein wichtiger Erfolg.

Das heißt: Die Chancen lassen sich auch wirklich nutzen?

Ja, das glaube ich schon.

Wie argumentieren Sie bei Ihrer Überzeugungsarbeit?

Es geht bei all diesen Themen nicht um etwas Nettes oder Karitatives. Sondern es geht um die Umsetzung von fundamentalen Grundrechten. Und es geht darum, dass es nicht nur die Aufgabe des Staates ist, Gesetze zu erlassen. Sondern auch, dafür zu sorgen, dass diese Rechte bei den Menschen ankommen. Denn wenn sie bei den Menschen gar nicht ankommen, dann ist es oft so, dass sich die Leute von unserem Staat verlassen fühlen. Im schlimmsten Falle führt das dann dazu, dass sie bestimmten Kräften hinterherlaufen, die einfache Antworten auf schwierige Fragen anbieten. Und deswegen ist mir das Motto meiner Amtszeit so wichtig: »Demokratie braucht Inklusion.«

Kommentare

Kevin Mohr

19. Januar 2021 um 13:30 Uhr

Danke fuer den tollen Blog Beitrag!<a href='https://www.steuerberater-kempf.de/aktuelles/news/bundesfinanzministerium/gesetz-zur-umsetzung-des-klimaschutzprogramms-2030-im-steuerrecht/' rel="nofollow ugc">:)</a>

Doris Scharnagl Lindinger

03. Dezember 2020 um 09:38 Uhr

Ich muss dem Vorgänger Kommentar uneingeschränkt recht geben, solange es Schlupflöcher gibt wo sich die Leute rauswinden können, sehe ich auch wenig Chancen irgendwann wirklich barrierefrei zu sein. Bei Gaststätten gibt es die Wirtschaftlichkeit, bei Kommunen, ach das geht nicht barrierefrei nicht dran gedacht und geändert. Barrierefreiheit sollte den gleichen Stellenwert bekommen wie Brandschutz erst dann kann man etwas ändern und bewirken, ansonsten ist es immer ein hinterher laufen.

Margot Pietsch

30. November 2020 um 10:09 Uhr

Was heißt hier „müssen“ für amtliche Stellen? Welche Verwaltung auf Kreis- oder gar Gemeindeebene hat eine barrierefreie Website, obwohl seit 2016 bekannt? Vollständige Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) seit 2013 bekannt und bis zum 01.01.2022 gesetzlich festgeschrieben. Wird nicht umgesetzt, gibt auch immer wieder Schlupflöcher. Was geschieht, wenn von öffentlicher Hand neu, aber nicht barrierefrei gebaut wird, Straßenland, Bushaltestellen usw…? Nichts, da kann man jahrelang drum kämpfen. Muss ein Amt sich nicht an Normen und Gesetze halten? Super Vorbild für Private! Warum werden Verwaltungsmitarbeiter oder Bürgermeister für Nichteinhaltung von Gesetzen nicht persönlich zur Verantwortung gezogen, noch besser zur Kasse gebeten, oder wenigstens zur Teilnahme an entsprechenden Lehrgängen verpflichtet? Das sind einfache Fragen und ich bekommen keine Antworten. Doch das interessiert mich als Bürger in der Stadt, da wo ich lebe. Unsere Gesetze sind gut, nur an der Umsetzung hapert es, da wird alles weichgespült.

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