»Es hilft, den Tag zu strukturieren«

von Hilmar Schulz

Psychotherapeut Michael Wunder über belastende Gefühle

Seit Ausbruch der Pandemie erleben manche Menschen vermehrt Ängste. Völlig normal meint Michael Wunder. Der promovierte Psychologe und Psychotherapeut war unter anderem Mitglied des Deutschen Ethikrats. Seit 1998 leitet er das Beratungszentrum der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg und behandelt dort Menschen mit kognitiver oder körperlicher Behinderung. Im Gespräch mit dem Rollstuhl-Kurier erklärt er, wie Hilfe aussehen kann. Wir fragten ihn: In wieweit ist Corona ein Thema in Ihrem Arbeitsalltag als Psychologe?

Wir sind von diesem Thema und allen Fragen, die damit zusammenhängen, buchstäblich umzingelt. Und wir sind natürlich mit von der oft prekären Lage unserer Klienten betroffen. Ich habe beispielsweise eine MS-Patientin, der es aus zwei Gründen gerade sehr schlecht geht: Sie hat keine sozialen Kontakte mehr. Und weil sie sich nicht zur Krankengymnastik traut, treten in der Folge Spasmen auf.

Wie sieht es insgesamt mit der therapeutischen Versorgung aus?

Ich glaube, die Versorgung von Menschen mit Körperbehinderung wird schwieriger: Notwendige Therapie- und Arztbesuche finden seltener statt und wenn, dann auf Abstand zwischen Arzt und Patienten. Noch gravierender ist aber, dass viele Klienten isoliert sind. Sie erleben die erzwungene Zurückgezogenheit sehr negativ. Ihre Möglichkeiten teilzuhaben sind dermaßen eingeschränkt, dass die Hauptstichworte Langeweile, Einsamkeit, Isoliertheit, Regression lauten.

Was können Menschen mit körperlicher Behinderung dagegen tun?

Eigentlich irritiert mich die Frage ein bisschen. Ist das, was Menschen mit Körperbehinderung machen können, wirklich so viel anders als das, was Sie oder ich im Moment tun können? Da sehe ich eher Gleichheit und nicht Differenz.

Wie halten wir alle das also aus?

Als Psychologe sage ich: Versuchen wir mal, umgekehrt zu denken – was ist eigentlich der Vorteil des Ganzen? Was ist gut daran? Vielleicht, dass wir zur Ruhe kommen. Uns aufs Wesentliche konzentrieren können. Endlich etwas erledigen, was wir schon immer wollten …

Was machen Sie persönlich, wenn die Momente der Bedrückung kommen?

Als Leitung des Beratungszentrums muss ich derzeit vieles umorganisieren. Ich arbeite derzeit sehr viel. Das wirkt wie ein Rauschmittel. Aber gestern hatte ich zum ersten Mal eine richtige Hängepartie. Ohne besonderen Auslöser war ich den Tränen nah. Ich fand alles negativ und düster.

Wie endete dieser Zustand?

Herausgeholfen hat mir der Mutmacher: Das schaffen wir! Außerdem lebe ich in einer wunderbaren, bereichernden Beziehung. Als mein Mann am Abend nach Hause kam, war er sehr verständnisvoll und hat mich aufgebaut.

Wie ist es bei denjenigen, die derzeit nicht in einer erfüllenden Paarbeziehung leben?

Grundsätzlich gibt es kein Rezept, wie man aus einem Tief herauskommt. Aus Kontakten weiß ich, dass besonders in dieser Krise viele Menschen eine Wellenbewegung erleben: Tagelang sind sie zuversichtlich und erfüllt, dann kommt ein Absturz. Mir scheint es einfach menschlich zu sein, dass man nur eine gewisse Zeit durchhalten kann.

Was sollte man also tun, wenn es einem schlecht geht?

Man sollte nicht zu Suchtmitteln greifen, konkret Alkohol. Und man sollte sich nicht verkriechen, sondern mit vertrauten Menschen reden. Darüber hinaus hilft es, den Tag sinnvoll zu strukturieren und zu planen. Frühstück, basteln, handwerken, lesen – zu vorher bestimmten Zeiten. So einen Plan kann man auch schriftlich machen. Das Schlimmste ist, wenn der Tagesablauf in einem Nichts verrinnt. Darüber hinaus hilft es, auch auf die positiven Seiten des Großen und Ganzen zu blicken. Mich hat zum Beispiel eine Meldung erheitert: In den Lagunen von Venedig sind jetzt wieder Fische zu sehen!

Und wenn jemand trotzdem nicht aus der Düsternis herauskommt?

Dann sollte man sich professionelle Hilfe holen. Wir haben im Hamburger Beratungszentrum ein psychosoziales Krisentelefon mit professionellen Therapeuten, Psychotherapeuten, Intensivpädagogen, Sozialpädagogen. Im äußersten Notfall stehen wir im Beratungszentrum auch im persönlichen Kontakt zur Verfügung.

Informationen über das Hamburger Beratungszentrum finden Sie unter: www.beratungszentrum-alsterdorf.de/beratung-therapie/ psychiatrisch-psychotherapeutische-ambulanz

Anfragen per Email: beratungszentrum@alsterdorf.de

Anmeldung für die psychotherapeutische Behandlung: Telefon 040 507 734 62 Email: ppi@alsterdorf.de

Wer sich emotional in Bedrängnis fühlt, kann auch jederzeit Rat suchen bei den ehrenamtlichen Mitarbeitern der Telefonseelsorge. Sie haben eine mehrjährige Schulung durchlaufen und bieten deutschlandweit kostenlose Beratung rund um die Uhr: Telefon 0800 111 01 11 (gebührenfrei)    

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