»Behinderungen sind vielfältig« Zwei Frauen prüfen die Barrierefreiheit von Arztpraxen

von Gabriele Wittmann

Jeder Mensch hat das Recht auf freie Arztwahl, doch nur jede dritte Praxis ist barrierefrei. Durch das Terminservice- und Versorgungsgesetz (§ 75 SGB V) müssen die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVs) seit Jahresbeginn über die Barrierefreiheit von Arztpraxen informieren. Zwar gibt es nun eine bundeswei-te Empfehlung, doch jedes Bundesland muss sie selbst auslegen.

Einen ganz anderen Weg geht seit Jahren ein Modell-Projekt: Zwei Mitarbeiterinnen der Hamburger Patienten-Initiative e.V. beschreiben die örtlichen Arztpraxen bis ins Detail. Wir fragten Karen Müller, die das Projekt mit aufgebaut hat: Reichen Beschreibungen wie »barrierefrei« oder »bedingt barrierefrei« nicht aus?

Karen Müller: Das ist sehr ungenau. Weil: Was verstehen Sie unter »rollstuhlzugänglich« und was verstehe ich darunter? Abgesehen davon sind das alles Selbstauskünfte der Ärzte. Man ist also auf die Urteilsfähigkeit derjenigen angewiesen, die da etwas angekreuzt haben. Und die Kriterien sind sehr grob. Man muss sich als Patient im Zweifelsfall noch einmal alles am Telefon beschreiben lassen. Und dann wird trotzdem manchmal eine Schwelle von drei Zentimetern übersehen, weil sie für Fußgänger keine Rolle spielt …

Sie begutachten Arztpraxen für das Projekt »Barrierefrei: Wir sind dabei« detaillierter. Wie gehen Sie vor?

Wir sprechen Arztpraxen an, ob sie sich beteiligen wollen. Dann machen wir einen Termin und erfassen selbst vor Ort anhand von etwa 300 Fragen, welche Bedingungen in der Praxis genau vorzufinden sind.

Wie lange sind Sie im Schnitt in jeder Praxis?

Ich bin routinierter geworden. Das Ausmessen und Eintragen dauert nicht länger als eine Stunde. Danach hängt es davon ab, wie groß das Interesse des Personals ist. Wollen sie mehr über das Projekt erfahren? Hat die Ärztin noch Fragen? Will sie Vorschläge für kleine Maßnahmen hören, die schon viel bewirken könnten, wie einen Stützklappgriff am WC?

Wohin wandern die Daten anschließend?

Wir veröffentlichen die erhobenen Daten erst, wenn die Ärztin der Veröffentlichung in unserer App »planB.hamburg« zugestimmt hat.

Warum stehen nicht viel mehr Adressen in der App? Es müsste doch eine gute Werbung sein, durch eine genaue Beschreibung zu den Ersten zu gehören, die das neue Gesetz umsetzen?

Kaum ein Arzt hat Interesse daran, noch mehr Patienten zu bekommen. Weil die Praxen alle überlaufen sind. Wenn sie sich an unserem Projekt beteiligen, dann tun sie es, weil sie die Sache gut finden. Weil wir den Patienten mit Behinderungen Informationsquellen bieten, die sie sonst nicht hätten. Wenn eine Praxis zum Beispiel Stufen hat, dann nehmen wir auch das mit auf, weil diese Praxis für gehbehinderte oder blinde Personen ja zugänglich ist. Wir machen ja keine Zertifizierung.

Warum nicht? Warum vergeben Sie kein Gütesiegel?

Es gibt eine hohe Zahl an Siegeln und Plaketten. Der Nutzen ist gering. Wir sind eine Patienteninitiative. Wir wollen Patienten etwas bieten, was ihnen die Arztwahl erleichtert. Auf der politischen Ebene heißt das, dass wir uns für die Interessen von Patienten einsetzen und mehr Barrierefreiheit in Arztpraxen schaffen wollen.

Aber ein Siegel würde doch für mehr Klarheit sorgen?

Nehmen Sie zum Beispiel die Zahnärztin, deren Vorgarten bereits einige Stufen aufweist. Die Eingänge sind viel zu schmal, es gibt keine barrierefreie Toilette. Und trotzdem ist die Ärztin einzigartig, weil sie gebärdet. Und zwar in drei Sprachen. Und sie bildet gehörlose Menschen zu Zahnarzthelferinnen aus. Das ist eine Barrierefreiheit, die einhundertprozentig ist in einem ganz bestimmten Bereich. Und null Prozent in einem anderen. Wie soll ich das zertifizieren? Behinderungen sind so vielfältig wie Menschen vielfältig sind. Und das kann man schlecht mit einem Stempel versehen, mit »ja« oder »nein«. Das ist nicht realistisch.

Sie haben inzwischen mehr als 130 Arztpraxen beschrieben. Wie geht es jetzt weiter?

Wir haben eine umfangreiche Dokumentation erstellt. Nun liegt unser Schwerpunkt darin, uns weiter zu vernetzen, um das Projekt und die Zukunft dieser App zu verstetigen.

Wie wollen Sie das erreichen?

Auf der politischen Ebene heißt das: Die Finanzierung des Vorhabens absichern, Gespräche führen und Überzeugungsarbeit leisten. Unsere Kooperationspartner sind die Kontakt- und Informationsstelle der Selbsthilfegruppen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands (KISS Hamburg), und die AOK Rheinland/ Hamburg. Die KV Hamburg sollte als Kooperationspartner auch immer dabei sein.

Wäre das eventuell ein Modellprojekt für ganz Deutschland?

Das wäre natürlich großartig. Ich weiß, dass es Bestrebungen in anderen Bundesländern gibt. Es gibt eigene Projekte in Bremen, Niedersachsen. In Bayern war mal ein Vorstoß, der ist jetzt gerade wieder eingeschlafen. Sachsen ist gerade Vorreiter …

Jedes Bundesland macht also sein eigenes Ding. Was machen Sie besser?

Nichts. Wir sind einfach ein ganzes Stück weiter. Aber wir sind auf Hamburg beschränkt. Und wir haben nur sehr begrenzte Ressourcen.

…. und Sie konnten nicht auf einen Fragenkatalog aus anderen Bundesländern zugreifen?

Nein. Wir haben uns auf Kriterien gestützt, die wir in der Landeskonferenz Versorgung in Hamburg gesammelt haben. Da waren auch viele Experten aus dem Gesundheitsbereich. Und wir haben am Ende jedes Kriterium von den Verbänden der Betroffenen gegenchecken lassen.

DAS PROJEKT

Die Dokumentation des Modell-Projektes »Barriere-frei. So sind wir dabei« finden Sie unter: www.patien-teninitiative.de/wp-content/uploads/2019/10/PlanB.hamburg-Dokumentation.pdf

Die daraus entwickelte App für in Hamburg beschriebene Arztpraxen steht unter: www.planb.hamburg

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