Hinschauen statt Wegschauen

von Gabriele Wittmann

Seit mehr als dreißig Jahren setzt Karl Finke Akzente in der Behindertenpolitik

Im Jahr 1993 brannten in Deutschland Flüchtlingsheime in Ost und West. Doch eine erstarkende Gegenbewegung engagierte sich für die Rechte von Minderheiten und setzte auch Rechte für Menschen mit Behinderungen durch. Und er war mittendrin: Karl Finke

»Sie sind ja munter drauf«, frohlockt Karl Finke ins Telefon. Dabei ist er es, der diese Energie verströmt. Schnell spricht er, und man muss aufpassen, hinterherzukommen und sich in den vielfältigen Erinnerungen des 74-Jährigen nicht zu verlaufen. Denn wie die Gassen einer gewachsenen Stadt münden Begegnungen in vielfältige andere Begegnungen, vereinigen sich Arbeitsfelder und Zeitgeschehen manchmal zu einer großen Agora, zu überraschend sich weitenden Plätzen des Austausches und gemeinsamen Agierens.

Einer dieser Plätze lag in den 1990er Jahren in Hannover. Finke ist zu dieser Zeit Landesbehindertenbeauftragter in Niedersachsen. Doch seine Aufmerksamkeit gilt Deutschland als Ganzes: Er lässt alle Übergriffe sammeln für eine Dokumentation mit dem Titel: »Deutschland im Herbst – Zunehmende Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen und andere Minderheiten«. Denn steigende Gewaltbereitschaft und rassistisch motivierte Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, gepaart mit der Bereitschaft, wegzusehen, beunruhigen nicht nur Menschen ausländischer Herkunft. Auch Menschen mit Behinderungen werden tätlich angegriffen. Wir sollten »Hinschauen statt Wegschauen«, fordert Finke immer wieder öffentlich. Und: Der Schutz vor Diskriminierung muss in die deutsche Verfassung mit aufgenommen werden.

Viele Akteure bewirkten am Ende, dass heute im Grundgesetz steht: »Niemand darf aufgrund seiner Behinderung benachteiligt werden. Auch Karl Finke hatte daran seinen Anteil. »Das ist ja heute kaum noch bekannt, dass der Antrag zunächst in der Bund-Länder-Kommission gescheitert ist«, erzählt der Niedersachse. »Es gab zunächst keine Mehrheit.« Gemeinsam mit anderen Verbänden wie der ISL hatte Finke jedoch zahlreiche Kampagnen organisiert, die die Runde machten. »Bevor die Gesetzesvorlage dann erneut in den Bundestag kam, forderte auch der damalige Bundespräsident eine Verfassungsänderung – mit Hinweis auf die Anti-Gewalt-Kampagne in Niedersachsen«, erzählt Finke. »Eine Diskussion wurde losgetreten, die CDU schwenkte um, und die Verfassungsergänzung ging durch.«

Für seine Arbeit erhält Karl Finke 1993 die erste von mehreren Auszeichnungen: Die Carl-von Ossietzky Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte.

Lesen im Kuhstall

Andere sitzen mit 74 Jahren gemütlich auf dem Sofa. Karl Finke mischt heute immer noch mit, in der Politik, im Sport. Wie kommt es, dass sich ein so langanhaltendes gesellschaftliches Engagement bei ihm entwickelt hat? »Das begann schon in der Kindheit«, erzählt er. »Ich hab’ als Neunjähriger im Kuhstall gelegen und Zeitung gelesen.« Warum im Kuhstall? »Meine Arme waren noch nicht lang genug, um die Zeitung auseinanderfalten zu können. Deswegen hab’ ich sie im Stall vor mich hingelegt. Da war Platz. «Finke ist neugierig. Als Jugendlicher arbeitet er sich durch das »Plädoyer für eine neue Bundesregierung« der »Gruppe 47«. Gespräche im Elternkreis erreichen ihn. Er fragt den Vater: »Wer wählt SPD?« Der antwortet: »Die einfachen Arbeiter.« Der Jugendliche entgegnet: »Dann haben die ja keine Chance, unter diesen Verhältnissen Recht zu bekommen!«

»Da war richtig Thermik in der Bude«

Foto: Collage aus »domino« Heft 2 / 1994

Karl Finke tritt den Jungsozialisten bei, gründet Arbeitsgruppen, macht Politik. Als er im Alter von 21 Jahren erblindet, gibt es noch keine technischen Hilfen. Durch das Studium der Erwachsenenbildung hilft ihm eine »Dreierbande«, die ihm die wichtigsten Zusammenfassungen des Stoffes auf Tonband spricht. Finke revanchiert sich auf seine Art: Er kann blind mit der Schreibmaschine umgehen und erstellt fehlerfreie Protokolle und Hausarbeiten.

Nach dem Studium arbeitet Finke als Fachbereichsleiter für Zielgruppenarbeit an der Volkshochschule Hannover. Hier koordiniert er Angebote für Menschen mit Behinderungen, aber auch für hundert Jugendliche, die in der Schule gescheitert sind. Der engagierte Pädagoge verbindet Ansätze und Zielgruppen, veröffentlicht Broschüren, koordiniert Selbsthilfegruppen. »Das ist bis heute meine Basis. Sonst hätte ich auch keine Kampagnen starten können. Denn dafür brauchst du einen Unterbau.«

»Ganz bewusst« trägt Finke den sogenannten »Kompetenzansatz« aus der Jugendarbeit in die Politik: Nicht die Defizite, sondern die Potentiale von Menschen sollen erkannt und gefördert werden. Mitte der 1980er Jahre gründet er eine Arbeitsgemeinschaft für Menschen mit Behinderungen innerhalb der SPD, die unter dem Namen »Selbstaktiv« bis heute agiert. Er ist inzwischen Bundesvorsitzender.

Medienrummel

»1993: Der Traum von einem umfassenden Gleichstellungsgesetz«

Foto: Collage aus »Die Stütze« Heft 6 / 1993

1990 wird Karl Finke Behindertenbeauftragter in Niedersachsen. Seine Amtszeit ist geprägt von Kampagnen und dem Versuch einer neuen Sozialpolitik. »Die gemeinsame Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder muss der Regelfall werden«, fordert Finke damals. Als ein behinderter Mensch Selbstmord begeht, fragen Mitglieder von Amnesty International: Sollen wir nicht etwas unternehmen? Eine große Demonstration wird vorbereitet. 2.000 behinderte Menschen fallen in eine großbürgerliche Kleinstadt ein, Medienrummel inklusive. Organisiert wird das alles von Finke in Kooperation mit der Selbsthilfegruppe »5-Uhr-Club« und Amnesty International. »Da war schon richtig Thermik in der Bude«, lacht er heute.

Die Aktionen ziehen Kreise, der Spiegel, der Münchner Merkur, die Rheinische Post berichten. Vor lauter Medientrubel zieht Finke schon mal sein Jackett verkehrt herum an. Zu den Broschüren über »Inklusion« und später »Partizipation« gesellt sich bald auch der Begriff »Empowerment« – ein Begriff des Sozialpsychologien Julian Rappaport, der für die praktische Arbeit vor Ort unter Mitwirkung aller Teilnehmenden taugte. »Karl, das sind die Themen von morgen, das schlägt auch bei euch bald auf«, sagte damals ein Freund, der für die Umsetzung der UN-Kinderschutzdeklaration arbeitete, die der UN-Behindertenrechtskonvention zeitlich vorausging. Finke nimmt den Impuls auf, ist damit 2003 einer der beiden Redner der Eröffnungsveranstaltung zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung.

Die nächste Runde

Als sein Job als Landesbehindertenbeauftragter 2013 ausläuft, ist Finke bereits seit mehreren Jahren Präsident des Behinderten-Sportverbandes Niedersachsen. Er ist es bis heute, und auch in diesem Amt hat er Preise erhalten. Er hat aber auch selbst Preise verliehen, wie zuletzt 2018. Genau 25 Jahre, nachdem er selbst für seine Kampagnenarbeit den Preis der Deutschen Liga für Menschenrechte erhalten hat, hält er die Laudatio auf Ottmar Miles-Pauls. »So schließt sich der Kreis«, erzählt Karl Finke. »Und das macht zufrieden. Denn es macht deutlich, dass so eine Grundidee eine Generation lang hält. Und sich weiterentwickelt.

Wer sich für die Zeitgeschichte interessiert: Unter www.archiv-behindertenbewegung.org/archivsuche
stehen Auszüge aus Zeitschriften wie »Die Stütze« aus dem Jahr 1993. Lohnenswert!

Collagen: Margarethe Quaas

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