Wir brauchen ein neues Icon

von Margarethe Quaas

Ein Ausflug durch die gebaute Stadt und das Design hinter den Dingen

Ein gemütlicher Sonntagsausflug in die Stadt beginnt am Bahnhof. An der Haltestelle steht ein Schild, darauf prangt die Grafik von zwei stilisierten Personen, die in einem kleinen Rechteck stehen. Der Pfeil geht hoch und runter: Er soll wohl auf einen Fahrstuhl hindeuten. Am Gleis angekommen, verweisen zwei Symbole – ein Kinderwagen und ein Rollstuhlfahrender – auf einen ebenerdigen Zugang zur Bahn. Wir finden uns zurecht. Wie bewegen wir uns durch die Stadt? Und wie durch eine fremde Stadt? Fühlen wir uns wohl, geht die konstruierte Umwelt auf uns ein? Finden wir ein Ziel ohne Umwege? Fahrstühle, Rampen, Eingänge ohne Stufen und Räume mit Bewegungsradius sind der Beweis: Die gebaute Welt passt sich den Menschen an. Und sie sind Zeugnisse davon, dass hier im besten Falle die Behindertenbewegung ihr Menschenrecht eingefordert hat. Diese Übergänge und Räume zu finden, erfordert einen geschulten Blick. Grafische Symbole auf Schildern, sogenannte Piktogramme, weisen im öffentlichen Raum auf Orte hin. Sie basieren auf einer genormten Bildsprache, die wir von klein auf gelernt haben. Sie kommt ohne Worte aus und leitet uns selbst in fremden Ländern den Weg. Die Grundlagen dieser internationalen Piktogramme entwickelte 1972 der Gestalter und Grafiker Otl Aicher anlässlich der Olympischen Spiele in München. Er entwickelte eine neue Zeichensprache, die radikal reduziert war und von allen Menschen verstanden wurde – eine Bildsprache ohne Schnörkel und mit geometrischen Elementen, die in der Symbolpalette immer wiederkehren. Mit im Repertoire: das noch junge »Internationale Symbol für Barrierefreiheit« (ISA) , das bis heute gilt.

Hinter den Dingen

Vier Jahre vor der Olympiade fand an der Stockholmer Kunst-und Designschule eine radikale Designkonferenz mit Workshops und Vorträgen statt. Forderungen wurden laut: Nützliches Design solle für Menschen geschaffen werden, statt für den profitorientierten Markt. Mit der Gegenkultur der 68er-Bewegung ging auch eine Politisierung des Designs einher. Konsumkritik und ein Pochen auf Nachhaltigkeit und Strukturwandel gingen damals quer durch die Stockholmer Universitätsreihen. »Derzeit läuft vieles falsch im Design. Alles ist hergestellt, für Profit, für Wegwerfartikel, die Menschen unglücklich machen«, so der wohl größte Kritiker, der österreichisch-amerikanische Designer, Philosoph und Pädagoge Victor Papanek. Er plädierte für einen sozialen und ökologischen Designansatz, der sich an den Bedürfnissen der Menschen ausrichtet und nicht an denen des Marktes. Inklusion, soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit waren Kernthemen, die er bereits vor über 50 Jahren betonte – Themen, die in der Welt des Designs damals neu waren. Papanek unterstrich nicht nur die Verantwortung von Designern, sondern auch, dass Design hinter jeder menschlichen Aktivität steckt: angefangen vom neuen Einräumen einer Schublade bis zum Ziehen eines schlechten Zahnes. »Design ist das bewusste Bestreben sinnvolle Ordnung zu stiften«, so Papanek im Entstehungsjahr der gut lesbaren und einheitlichen Zeichen von Otl Aicher. Was die Piktogramme von Aicher angeht, entstand eine Ordnung durch Orientierung.

Design ist politisch

In seinen Schriften betont Papanek nicht nur die Ordnung durch Design, sondern auch das Erzielen von Aufmerksamkeit – speziell für Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung. Mit dieser Einstellung war er am Puls der Zeit, denn in den 60er Jahren formierte sich auch die Behindertenbewegung in den USA. Menschen mit Behinderung organisierten sich und erkämpften mühsam Räume, Übergänge, Zugänge. Man kann davon ausgehen, dass Papaneks Studentin Susanne Koefoed von diesen Gedanken beeinflusst wurde, als sie das bekannte Internationale Symbol für Barrierefreiheit (ISA) während der Stockholmer Designkonferenz 1968 entwarf. Ein Rollstuhl, noch ohne Kopf, verbreitete sich daraufhin in ganz Schweden. Ein Jahr später kam von Karl Montain, Direktor des neuen schwedischen Instituts für Behinderte, der Kopf hinzu. Als das Piktogramm von der Internationalen Organisation für Normung, kurz ISO, übernommen wurde, fand es weltweiten Einsatz. Es war der Beginn des Vorhabens, Barrierefreiheit für alle Menschen sichtbar zu machen.

verschiedene Entwürfe für ein neues Rollstuhlfahrer Icon

Die Verantwortung von Design


Auf unserem Sonntagsausflug durch die Stadt erkennen wir das Symbol von Koefoed wieder: An Parkplätzen, Fahrzeugen, öffentlichen Toiletten, Tasten für automatische Türen oder Anzeigen für eine zugängliche Transitstation. Wir lernen: Es weist auf einen Übergang oder Raum hin, der für Menschen mit Behinderung angepasst ist. Und wir erkennen noch mehr: Das internationale Symbol für Barrierefreiheit
hat sich in seiner Gestaltung seit knapp einem halben Jahrhundert kaum verändert. Haben die Designer das von Papanek geforderte Verantwortungsbewusstsein vergessen? 2010 bewegte sich Sara Hendren mit ihren drei Kindern durch die Stadt und entdeckte auf ihren Wegen, wie die gebaute Umwelt auf sie eingeht.
Ihr fiel jedoch auch auf, dass sich das Symbol für Barrierefreiheit allzu sehr in das Straßenbild einfügt, ohne große Aufmerksamkeit zu erzeugen. Als Designerin beschäftigte sie sich viele Jahre mit Behindertenrecht. Mit dem Graffitikünstler Brian Glenney beschloss sie damals, die Öffentlichkeit und die Politik wachzurütteln: Ein neues, dynamisches Symbol sollte her.

»Die Welt ist bereit, Barrierefreiheit neu zu kennzeichnen«

Hendren sammelte verschiedene Beispiele dafür, wie das Symbol für Barrierefreiheit von einzelnen Designern weiterentwickelt wurde. Und stellte fest: Das bisherige Icon der ISO mit seiner starren und passiven Person in einem Rollstuhl ist nicht mehr am Puls der Zeit. Ihr Vorschlag: eine selbstbestimmte, dynamische und aktive Person bewegt sich in einem Rollstuhl. Das neue Symbol für Barrierefreiheit wurde
zwar nicht in den Zeichensatz der ISO aufgenommen, doch schlug es hohe Wellen. 2014 führte New York, 2017 Connecticut das neue Icon ein. Es ist Teil der ständigen Sammlung des Museum of Modern Art. Und verschiedene Organisationen, Institutionen, Städte und Privatpersonen nutzen es heute. Dies zeigt: Die Welt ist bereit, Barrierefreiheit neu zu kennzeichnen. Ein Blick nach vorn 1968 ging es um die Repräsentation von Menschen mit Schwerbehinderung, heute geht es um ihre aktive Beteiligung im öffentlichen Raum. Normen ändern sich und auch normierte Piktogramme sollten mit der Zeit gehen. Denn: Erkennen wir am Gleis ein Symbol für Barrierefreiheit, ist es nicht nur ein Schild, das für Menschen im Rollstuhl steht. Es steht für eine ganze Menschenrechtsbewegung.

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