Das Interview: 30 Jahre ISL e. V.
von Gabriele Wittmann
1990 gründeten sich im gerade wiedervereinigten Deutschland viele Behinderten-Verbände neu. Auch die »Selbstbestimmt Leben«-Zentren schlossen sich damals zu einer bundesweiten Interessenvertretung zusammen. Wir fragten die langjährige Leiterin der Bundesgeschäftsstelle der ISL in Berlin, Sigrid Arnade: Wo waren Sie zu jener Zeit?
1990 gründeten sich im gerade wiedervereinigten Deutschland viele Behinderten-Verbände neu. Auch die »Selbstbestimmt Leben«-Zentren schlossen sich damals zu einer bundesweiten Interessenvertretung zusammen. Wir fragten die langjährige Leiterin der Bundesgeschäftsstelle der ISL in Berlin, Sigrid Arnade: Wo waren Sie zu jener Zeit?
Sie erhielten damals das Angebot, eine Veranstaltung von »Aktion Sorgenkind« zu moderieren. Das haben sie abgelehnt. Warum?
Das ZDF rief an und fragte, ob ich das machen will. Und ich sagte: Also mit diesem »Sorgenkind« will ich ja nun gar nix zu tun haben! Die Redakteurin meinte: Überlegen Sie es sich, schauen Sie sich an, wie das Ganze läuft. Ich habe es mir angesehen und gesagt: Das ist nicht meins, zu berichten, dass da jemand in Hintertupfing einen Hefezopf für einen armen behinderten Menschen gebacken hat.
Sie haben dann später doch noch für das ZDF gearbeitet …
Ja, aber ich habe nur Beiträge gemacht, die ich gut und richtig fand. Das hätte ich nie gekonnt, etwas zu erzählen, was nicht meiner Überzeugung entspricht. Und da habe ich damals auch Hans Mohl kennengelernt, den Erfinder der Aktion Sorgenkind. Er fragte mich, wie ich das fände. Und ich sagte: Im Prinzip gut, nur der Name ist grauenhaft. Und es ist ja dann mit einem langen Atem und der Unterstützung vieler Leute gelungen, den Namen zu ändern.
»Aktion Mensch« lautete der neue Name der Organisation, die Anfang der 2000er Jahre einen grünen Bus sponserte. Sie sind darin durch Berlin gefahren, um zu protestieren. Was steckte dahinter?
Da muss ich etwas ausholen. Der damalige Geschäftsführer der ISL, Ottmar Miles-Paul, hatte den 5. Mai erfunden, den europaweiten Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. 1991 hatte sich der »Initiativkreis Gleichstellung Behinderter« gegründet, da hatte in den USA Bush Senior ein ganz weitgehendes Anti-Diskriminierungs-Gesetz unterschrieben. Und wir haben gesagt: Wir brauchen auch so ein Gesetz.
… und dann kam 1989 die Wende …
Ja. Als dann die Verfassung diskutiert wurde, im Zuge der deutsch-deutschen Vereinigung, sagten wir: Jetzt oder nie. Ins Grundgesetz muss der Satz: »Niemand darf wegen seiner Behinderung diskriminiert werden.« Das ist 1994 dann auch passiert, alles noch unter der Kanzlerschaft von Helmut Kohl.
Und dann kam Rot-Grün …
Genau. Wir haben gesagt: Das Grundgesetz ist schön und gut, aber das muss jetzt auch umgesetzt werden. 1998 hat Rot-Grün es unter Gerhard Schröder mit in den Koalitionsvertrag aufgenommen, dass sie diese Grundgesetznorm in Einzel-Gesetze umsetzen werden. Und es passierte: nichts.
Dagegen haben Sie mit dem grünen Bus in Berlin protestiert?
Ja. Der Verband behinderter Juristinnen und Juristen hatte einen Gesetzesvorschlag erarbeitet. Und die Aktion Mensch hat mit Unterstützung diesen Bus finanziert, mit einer Uhr, die rotierte und zeigte: Wie viele Tage bleiben noch in der Koalition, um das umzusetzen?
Sie haben mit dem Bus auch Rechte für Frauen erkämpft …
Inzwischen gab es Netzwerke behinderter Frauen in vielen Teilen Deutschlands, und wir hatten eines in Berlin gegründet. Wir sind damals mit dem Bus an den Landwehrkanal gefahren, wo einst Rosa Luxemburg ermordet wurde, und haben eine Resolution an die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt übergeben, um ein Recht auf Frauenpflege zu erstreiten. Wir sind zum Bundesjustizministerium gefahren und haben das Zweiklassen-Sexualstrafrecht angeprangert. Damit hatten wir letztlich Erfolg – wenn auch erst Jahre später. Damals war es noch so, dass Vergewaltiger eine geringere Strafe bekamen, wenn die Frauen behindert waren, als wenn sie nicht behindert waren.
Aus heutiger Sicht: unglaublich. Sie haben danach auch in New York für die Rechte der Frauen gekämpft?
Ich war ab 2005 dreimal in New York in drei Verhandlungsrunden. Und habe mich vor allem dafür eingesetzt, dass die Rechte behinderter Frauen in der UN-Behindertenrechtskonvention verankert werden. Denn der erste Entwurf war absolut geschlechtsneutral. Selbst bei dem Artikel zum Thema »Gewalt« kam das Wort »Frauen« nicht vor. Dann habe ich mit einer Kollegin vom Sozialverband Deutschland zusammen eine Kampagne »Behinderte Frauen in der Konvention sichtbar machen« gegründet und bin nach New York gefahren. Und wir waren mit unseren Vorschlägen letztendlich erfolgreich.
Die USA waren früher in manchen Punkten ein Vorbild. Wie hat der Ansatz des »Peer Counseling« die Arbeit der ISL geprägt?
Es ging um »Selbstbestimmtes Leben«. Die ISL hat versucht, das Arbeitgeber-Assistenz-Modell in Deutschland zu etablieren. Was nicht für die Masse an behinderten Menschen, aber für viele doch ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht, auch mit hohem Assistenzbedarf. Die ISL hat sich auch stark dafür eingesetzt, dass bei Aktion Mensch die Richtlinien geändert wurden und nicht nur Großeinrichtungen gefördert werden, sondern eher kleinere Wohngruppen. Wir haben uns stark gemacht für die Grundgesetz-Ergänzung, dass das Behinderten-Gleichstellungsgesetz (BGG) verabschiedet wurde, dann das allgemeine Gleichberechtigungsgesetz (AGG). An all diesen Dingen haben wir federführend mitgewirkt. Und dann letztlich Einfluss auf die Behindertenrechtskonvention genommen – über Dinah Radtke, die auch in New York dabei war, über mich, und Theresia Degener. Und wir haben mit bewirkt, dass das Peer Counseling flächendeckend in vielen EUTB-Beratungsstellen unabhängig und kostenlos angeboten wird. In unseren Zentren für Selbstbestimmtes Leben beraten behinderte Menschen andere auf Augenhöhe, damit sie ein selbstbestimmtes Leben führen können. Peer Counseling ist eine professionelle Beratungsmethode, und wir bieten regelmäßig Ausbildungen dazu an.