Als das Sitzen Rollen lernte

von Kristin Hiltpolt

Heute gibt es sie für den Sport, für den Strand oder mit Elektroantrieb. Seine Räder haben verschiedenste Größen, sein Rahmen kann aus den unterschiedlichsten Materialen bestehen, abgestimmt auf die Bedürfnisse der Person, die ihn benötigt. Derzeit gibt es in Deutschland immerhin 1,6 Millionen Menschen, die auf ihn angewiesen sind. Doch der Weg von schubkarrenähnlichen Rollwägen bis zu den technologischen Experimenten der heutigen Zeit war lang.

Mit Mobilität beschäftigten sich schon immer Menschen aller Epochen und in allen Teilen der Welt. Eine der frühesten historischen Nachweise eines mit Rädern versehenen Möbelstücks war die Darstellung eines Kinderbetts mit Rollen im Zierstreifen einer griechischen Vase aus dem 6. Jahrhundert vor Christus. Allerdings wissen wir heute nicht sicher, wie oder für wen dieses Bett genutzt wurde.

Die ersten Beweise für einen Stuhl mit Rollen finden sich etwa drei Jahrhunderte später in China. Hier benutzte man die neu erfundene Schubkarre, um sowohl Menschen als auch schwere Objekte zu transportieren. Zwischen diesen zwei Funktionen wurde bis etwa 525 nach Christus keine Unterscheidung getroffen. Zu diesem Zeitpunkt tauchten in der chinesischen Kunst die ersten Abbildungen von rollenden Sesseln auf, die nur noch zum Personentransport gedacht waren.

Rollstühle als Privileg der Upper Class

Wie man sich heute wahrscheinlich vorstellen kann, waren ältere und behinderte Menschen nicht immer die anvisierte Zielgruppe der Rollstuhlbauer. Stattdessen wurden diese potenziell lebensverändernden Geräte mehr zum Spielzeug der Reichen. Dazu kommt auch der kulturgeschichtliche Aspekt, dass die Lehne eines Stuhls oder Sessels der gesellschaftlichen Position des Sitzenden entsprach. So durfte das gemeine Volk keine hohe Lehne haben, wodurch auch ein wesentlicher orthopädischer Effekt des Rollstuhls wegfiel.

Von Philip II., König von Spanien, weiß man, dass er um 1595 ein rollstuhlähnliches Gefährt benutzte. Es handelte sich dabei um eine Art mobilen Thron, der aus Holz, Leder und Eisen gebaut war. Der Stuhl verfügte zudem über verstellbare Fuß- und Armlehnen. Ein selbstständiger Antrieb war jedoch noch nicht möglich. Philips Stuhl wurde von einem flämischen Edelmann entworfen.

Die meisten Fortschritte in der Entwicklung des Rollstuhls waren aber jenen Menschen zu verdanken, die ihn selbst am dringendsten benötigten. So baute der 22-jährige Uhrmacher Stephen Farfler sich den ersten selbstbetriebenen Rollstuhl. Der Nürnberger wollte trotz seiner Kinderlähmung selbstständig mobil sein und erfand so eine ausgeklügelte Mechanik, die mit der von heutigen Handbikes vergleichbar ist. Eine Art Dreirad, das durch eine Handkurbel am Vorderrad ein System aus Zahnrädern in Bewegung setzte, sorgte so für ein zügiges Vorankommen.

Etwa um 1760 kamen im britischen Kurort Bath vermehrt Rollstühle in der Art von »Minikutschen « für eine Person zum Einsatz. Die sogenannten »Bath Chairs«, erfunden von James Heath, wurden entweder von Tieren gezogen oder von einer Begleitperson geschoben. Manche Modelle verfügten über eine Steuerung, mit der der Fahrer wenigstens die Richtung bestimmen konnte, in die es gehen sollte.

Kriege als Motor für Innovationen

Das erste Patent für einen Rollstuhl wurde im Jahr 1869 in den USA erteilt. Hier kamen Rollstühle nach dem amerikanischen Bürgerkrieg vermehrt zum Einsatz. Meist handelte es sich um hölzerne Rollstühle mit Rückenlehnen aus Schilfrohr.

Eine der essenziellsten Erfindungen auf dem Weg zur verbesserten Mobilität für Menschen mit Behinderung war die des klappbaren Rollstuhls. Auch dieser wurde wieder von einem Betroffenen selbst gebaut: Der Bergbauingenieur Herbert Everest war nach einem Arbeitsunfall auf einen Rollstuhl angewiesen. 1933 entwarf er gemeinsam mit dem Maschinenbauingenieur Harold C. Jennings einen Rollstuhl mit geringem Gewicht, der für den Transport zusammengefaltet werden konnte.

Das Resultat ihrer Arbeit konnte sich sehen lassen: ein 25-Kilo-Modell aus rohrförmigem Stahl mit klappbarem, x-förmigem Rahmen entstand, neben dem die schweren Holzgefährte aus dem Bürgerkrieg wortwörtlich alt aussahen. Der Everest & Jennings Stuhl wurde zu einem Standard in der Industrie. Zu den prominenten Kunden der Entwickler zählten unter anderem auch Franklin Roosevelt und Winston Churchill.

Elektrisch in die Gegenwart

Ebenfalls aus den 1930ern stammt eine Art elektrisch betriebenes Dreirad, das man als Vorgängermodel des Elektrorollis betrachten kann. Etwas später erfand George Klein, ein gebürtiger Kanadier, den Elektrorollstuhl im klassischen Sinn. Die Nachfrage nach seiner Erfindung war groß, da sie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg für viele invalide Veteranen eine massive Verbesserung im Alltag darstellte.

Die frühen Elektro-Rollstühle waren meist Standardrollis, an denen ein Motor befestigt wurde. Im weiteren Verlauf wurden Motor und Batterien unter dem Sitz des Stuhls angebracht. Durch die Trennung der Fahrkomponente von der Sitzkomponente des Stuhls eröffneten sich für Rollstuhlentwickler völlig neue Möglichkeiten, was die Ergonomie der Rollstühle anbelangt.

Die weiteren Entwicklungen im Rollstuhldesign gingen hauptsächlich in die Richtung Gewichtsreduktion sowie Leistungs- und Komfortsteigerung. Dabei sind viele Verbesserungen vor allem dem Sport zu verdanken, der zur Etablierung ultraleichter Modelle maßgeblich beigetragen hat. Alles zusammen sorgten die Fortschritte in der Manövrierfähigkeit, Zuverlässigkeit und beim Komfort dafür, dass Menschen mit Mobilitätseinschränkungen mehr Möglichkeiten erhielten, an sozialen Aktivitäten teilhaben zu können.

Große Fortschritte wurden im 21. Jahrhundert durch Augen- sowie auch Gedankensteuerung bei Rollstühlen erreicht. Bei Letzterem handelt es sich um die sogenannte BCI (Brain Computer Interface), bei der neuronale Signale durch ein Implantat im Gehirn gemessen und auf den Computer übertragen werden. Erfinder dieser Technologie ist John Donoghue mit der Firma Braingate.

Auch heute sind Entwicklung und Verbesserung von Rollstühlen noch lange nicht abgeschlossen. Doch nicht nur die Rollstühle selbst, sondern auch die gesamte gesellschaftliche Infrastruktur ist auf permanenten Fortschritt angewiesen, um barrierefreier zu werden. Es lässt sich optimistisch in die Zukunft blicken: Neue technische Errungenschaften in den verschiedensten wissenschaftlichen Bereichen sorgen dafür, den Alltag von Menschen mit Mobilitätsbehinderungen stetig zu verbessern.

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