Selbstbewusstsein feiern: Mit adaptiver Mode setzen Labels einen gesellschaftlichen Trend

von Margarethe Quaas

Sehen und gesehen werden – eine reine Oberflächlichkeit? Keineswegs! Sich modisch kleiden erfüllt eine Reihe von Grundbedürfnissen: Interesse wecken, sich selbst und anderen gefallen, beachtet werden. Mit adaptive Fashion haben kleine, aufstrebende Modelabels eine Marktlücke erkannt: Sie schaffen funktionale und modische Kleidung für Menschen mit und ohne Behinderung. In Pionierarbeit zeigen Designer, dass Funktion und Ästhetik sich nicht widersprechen müssen. Und lange Entwicklungsprozesse zu klugen Lösungen für alle Menschen führen können. Wir stellen zwei aktuelle Labels vor und zeigen auf unserer Bildstrecke ihre Ideen für die kommende Herbst- und Wintersaison.

MOB

Trendig, jung, frisch – und barrierefrei. So sind die Schnitte von »Mode ohne Barrieren«, kurz MOB. Josefine Thom ist Mitbegründerin und erklärt das Konzept: »Das Wichtigste ist, dass wir die Kleidung mit Rollstuhl-Nutzern gemeinsam entwickeln und dabei mit unterschiedlichen Modedesignern zusammenarbeiten.«

Denn: jeder Designer hat ein anderes Konzept. Manche legen ihren Fokus auf Nachhaltigkeit, andere arbeiten viel mit Prints oder für ganz spezielle Zielgruppen, erklärt Thom. Das Ergebnis sind auffallende Farben, hochwertige Stoffe und geradlinig moderne Formen. Die barrierefreien Funktionen sind mit Liebe zu klaren Linien ästhetisch in das Design integriert. Die langen Entwicklungsprozesse bringen Designlösungen hervor, die auch für Nichtrollstuhlnutzer attraktiv sind. Bei dem Adaptive Hemd »No Troubles« etwa wählt der Nutzer neben Farbe und Größe die Passform »Companion« oder »Standard«: Steh- oder Sitzmode. Inklusiv ist hier der innovative Induo Stoff, der weder Getränke-, Saucen- oder Schweißflecke, noch unangenehme Gerüche annimmt. Praktisch und schick für alle Hemdenträger.

Mode macht Politik

Schnell wird klar, dass es der diplomierten Sozialpädagogin nicht nur um den rollenden Rubel, sondern auch um die gesellschaftliche und politische Bedeutung des Themas geht. »Wir machen nicht nur Mode, sondern auch Bildpolitik«, sagt Thom. »Uns geht es um die Repräsentation von Menschen mit Behinderungen, dazu machen wir auch Veranstaltungen.« Viele junge Leute fühlen sich deshalb der Marke zugehörig: »Die sehen das als Movement, nicht als Klamotte.«

Passt genau

Der größte Bereich von MOB ist die Herstellung von Maßanfertigungen aus Basic-Schnitten. Wenn sich eine Person nicht mehr alleine umziehen kann, dann wird die Grundjacke so genäht, dass sie komplett teilbar ist und unter den Armen aufgeht. Ab 300 Euro erhält der Kunde ein Produkt, das er selbst mitgestaltet hat: in Farbe, Verschlüssen und Passgenauigkeit. Ein Qualitätsprodukt, das seinen Träger lange Zeit begleitet.

»Auch immer beliebt sind Hosen«, stellt Thom fest. Beispielsweise die für alle adaptive Hose »GON x MOB« mit Magnetverschluss unter dem Knie. Man kann sie teilen, durch den magnetischen Verschluss auch sekundenschnell. »Das ist praktisch für Rollstuhlnutzerinnen, dann muss ich mich nicht mobilisieren für die Wärme-Kälteregulierung, wenn das Wetter wechselhaft ist«, erklärt Thom. Die Hose aus knitterarmem Leinen wird komplett in Österreich hergestellt. Die Funktion des Stoffes ist wichtig, denn Falten können Druckstellen hervorrufen. Aus diesem Grund befinden sich die Taschen auf der Oberseite der Oberschenkel.

Der Preis von 250 Euro beinhaltet auch hier eigene Anpassungen. »Für viele ist der Sitz wichtig. Sie wollen bei der Bestellung angeben können, dass die Hosenbeine kürzer oder der Bund hinten höher sein soll«, weiß Thom.

Stylische Schlupfsäcke

Dass Fußsäcke auch cool und trendig aussehen können, zeigen die Modelle »OK Cool« oder »Resistance«. Als Hilfsmittel anerkannt, unterstützen die Krankenkassen den Kauf mit 125 Euro. Da jeder Rollstuhlnutzer den Hersteller selbst aussuchen kann, kommen häufig Anfragen von Reha-Beratern oder Reha-Häusern an MOB. Auch hier sieht Thom noch viel Bedarf auf politischer Seite: »Allgemein wird Kleidung zu wenig als Hilfsmittel anerkannt, obwohl sie den Alltag so sehr erleichtert. Magnetverschluss bedeutet Teilhabe auf einem anderen Level.«

SO YES

Menschen in ihrer Unabhängigkeit maximal zu unterstützen, das ist die Mission des Labels SO YES. Hinter der belgischen Marke stehen Sofie Ternest und Jessie Provoost. Seit 13 Jahren arbeiten sie zusammen. Doch mit Mode hatten sie anfangs nichts am Hut.

Kennengelernt hatten sich die beiden Ergotherapeutinnen im Rehabilitationscenter in Roeselare, im Westen Belgiens. Täglich sahen sie, wie schwierig es sein kann, mit einer körperlichen Behinderung Kleidung anzuziehen oder zu tragen. Nach einer langen und enttäuschenden Suche nach modischer, erschwinglicher und lokal produzierter Kleidung gründeten sie kurzerhand das Label SO YES.

Sofie Ternest, die immer noch im Rehazentrum als Teamleiterin arbeitet, kann beide Jobs ideal verbinden. »Ich habe den direkten Kontakt zu den Nutzern und kann auch mal das Produkt testen«, erklärt sie und stellt Jessie Provoost vor: »Sie hat ein Händchen für Fashion und Styling. Wenn wir zu einer Messe gehen, lasse ich mich gern von ihr beraten.«

Aus der Praxis lernen

Aus ihrer beruflichen Praxis wissen beide, wieso Kleidung oft unvorteilhaft bis gesundheitsschädlich für Rollstuhlnutzer ist: unbedeckter Rücken, Hosenbeine zu kurz, Nähte oder Taschen auf den Sitzflächen, die Druckstellen verursachen können. Oder das Katheterisieren ist im Sitzen durch den kurzen Reißverschluss nur eingeschränkt möglich.

In einem konkreten Fall trafen die SO YES Gründerinnen auf eine Dame, die nach einem Unfall dauerhaft im Rollstuhl saß und das Sondieren lernen musste – alle vier Stunden, was ihr viel Freiheit nahm. »Sie war eine echte Lebefrau und wollte weiter reisen und Tagesausflüge planen. Die Sondierung stellte sich als großer Stolperstein heraus, weil sie im Sitzen die Hose nicht ausziehen konnte«, blickt Provost zurück.

»So sind wir dazu gekommen, Hosen mit tiefen oder seitlichen Reißverschlüssen herzustellen, um ihr diesen Vorgang zu erleichtern«, erklärt Ternest weiter. Schritt für Schritt haben die Belgierinnen gemeinsam mit ihren Patienten nach Lösungen gesucht. Und sie gefunden.

Hosen mit Anspruch

Allein ihre Rollstuhlhosen müssen eine Reihe an Anforderungen erfüllen: höher im Rücken, eventuell mit Gummizug, manchmal tiefer im Bauch, um den Sitzkomfort zu verbessern. Eine gute Passform. Keine Taschen oder Nähte auf dem Gesäß, Vordertaschen an einer zugänglichen Stelle und nicht an einer Leistenfalte. Und je nach Möglichkeit Knopf, Klett oder Öse.

Bei SO YES liegen die Rollstuhlhosen im mittleren Preissegment, zwischen 79 und 120 Euro. Der Käufer kann zwischen Hosen mit tiefem Reißverschluss, elastischem Bund, Sitz- oder Stehhosen wählen. Sie bestehen meistens aus Baumwolle, denn Viskose nutzt sich schneller ab. Baumwolle und Wolle dagegen sind stärker, haben eine höhere Qualität und sind natürlich. Sie können Feuchtigkeit sehr gut aufnehmen. »Das ist zum Beispiel ein wichtiger Faktor, um Wunden zu verhindern«, betont Ternest.

Wissen weitergeben

Die beiden fachkompetenten Frauen geben ihr Wissen gern weiter. Auf ihrer Webseite bieten sie »Ratschläge von Ergotherapeuten« an. Darin beantworten sie Fragen, beraten oder nehmen gerne Anregungen auf. »Ausgehend von den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Kunden suchen wir nach einem Kleidungsstück, das am besten zu ihnen und ihrem Lebensstil passt.«

Kommentare

Simone

11. Januar 2022 um 17:52 Uhr

Coole Sache.... ich sitze auch im Rollstuhl zumindest teilweise... und in so einem Team macht das bestimmt Spaß

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