Backen, Braten, Brutzeln leicht gemacht

von Margarethe Quaas

Rollstuhlfahrerin wird beim Kochen von einem Mann unterstützt
Foto: Pro-Ipso GmbH & Co. KG / www.pro-ipso.de

Gute Beratung ist die halbe Miete – der lange Weg zur ersten eigenen rollstuhlgerechten Küche und zu mehr Selbstständigkeit

Der Anruf kommt aus einer 50 Quadratmeter großen Zweizimmerwohnung in der Hafen-City Hamburg: »Ich bin mitten im Lern- und Prüfungsstress«, erklärt der 23-jährige Daniel Reifferscheidt. Mit dem Ziel finanzieller Unabhängigkeit vor Augen erlebt er gerade eine kräftezehrende Zeit.

Den ersten Schritt zur Selbständigkeit machte der Rolli-Nutzer bereits vor mehr als einem Jahr mit dem Einzug in seine erste eigene Wohnung. Und damit fing der Ärger an.

Dabei hatte alles so vielversprechend geklungen: Über den Träger Alsterdorf Assistenz West, im selben Gebäude, erhielt Reifferscheidt eine Wohnung und eine sozialpädagogische Assistenz zugesichert. Den Mietvertrag schloss er mit der Gesellschaft für Wohnungs- und Gewerbebau Baden-Württemberg AG ab, dem Vermieter.

Weil es ein Neubau war, setzte der Auszubildende damals seine Unterschrift unter den Grundriss, ohne die Wohnung persönlich gesehen zu haben. »Eine sogenannte ›barrierearme Wohnung‹ stand im Kleingedruckten, so dass ich nicht sofort ersehen konnte: Moment, das ist ja gar nicht rollstuhlgerecht«, erinnert sich Reifferscheidt.

Das böse Erwachen kam dann mit dem Einzug: »Hier stimmt ja ein großer Teil nicht, Mist, und ich habe schon unterschrieben«, erinnert sich der Mieter an seine damalige Reaktion. Seine Sachen waren gepackt, die Kaution war hinterlegt, die Eltern hatten die Renovierung ihrer Wohnung eingeleitet. Ein Zurück gab es nicht mehr. Der tatendurstige Azubi überlegte nicht lange: Mit dem Einzug ging er direkt in die Planung des Umbaus – ohne finanzielle Unterstützung des Vermieters.

Das Aha-Erlebnis kommt schnell

Haus der Barrierefreiheit
Fotos: Margarethe Quaas

Beraten, Testen, Planen

Elf Kilometer nördlich der HafenCity klingelt das Telefon im Büro von Antje Voss. Die Architektin ist Beraterin für Wohnungsanpassung, -umbau und barrierefreies Bauen im Beratungszentrum Barrierefrei Leben e. V. Sie stand
Daniel Reifferscheidt knapp ein Jahr lang zur Seite, um mit ihm gemeinsam Stück für Stück eine für ihn angepasste Küche einzubauen.

Für Reifferscheidt stellte sich das Beratungszentrum als Glücksfall heraus. Beraten wird hier auf allen Ebenen: telefonisch, digital oder durch persönliche Besuche. Und der Verein führt eine Dauerausstellung mit zwei voll eingerichteten rollstuhlgerechten Küchen in verschiedenen Preissegmenten. »In der Größenordnung wie
wir es machen, im Zusammenschluss mit Experten eine Fachberatung anzubieten plus eine Dauerausstellung vorzuhalten, ist es bundesweit einmalig«, betont die erfahrene Antje Voss. Neben Wohnungsanpassung und -umbau wird auch zu technischen Hilfen beraten: von angepassten Möbeln und Transferhilfen bis hin zu
Alltagshilfen beim Anziehen oder Schreiben.

Frau hat Telefonhörer in der Hand
Fotos: Margarethe Quaas

Der junge Küchenplaner nutzte das Angebot und probierte alles aus. Das erste Aha-Erlebnis kam schnell: »Ich wusste nicht, dass es Backöfen gibt, die eine einschiebbare Klappe haben.« Erst durch das Beratungszentrum ist er darauf aufmerksam geworden. Antje Voss erklärt den Hintergrund: »Bäder haben wir seit 20 Jahren im Fokus. Der Markt hat reagiert. In jedem Baumarkt gibt es etwas für Bäder, aber für Küchen noch nicht. Deshalb haben wir zwei Ausstellungsküchen, die wir in verschieden Preissegmenten darstellen.« Hier lassen sich die Liftsysteme, Tischsysteme, Arbeitsplatten ausprobieren. Die herausziehbaren Schubfächer sind teilweise bis zum Rand gefüllt, um zu testen: Reicht die Kraft zum Herausziehen und erreiche ich auch das Glas in der hintersten Ecke?

Barrierefrei, Barrierearm, Rollstuhlgerecht

Die Begriffe Barrierefrei und Rollstuhlgerecht müssen der gesetzlich vorgeschriebenen DIN-Norm entsprechen. »Barrierearm« oder »behindertengerecht« unterliegen dagegen keiner rechtlichen Definition und können vom Vermieter frei gewählt werden. Bei diesen Beschreibungen lohnt es sich genau hinzuschauen.

Mann im Rollstuhl holt etwas aus einem Küchenschrank
Foto: Sidelift 6400 / www.granberg.de

Eigenständigkeit und Sicherheit stehen bei der Planung im Vordergrund

Step by Step

Für die Umbauberaterin Antje Voss stehen bei der Planung zwei Punkte im Vordergrund: Eigenständigkeit und Sicherheit. Im Fall der Küche wären das: Verbrennen, Verbrühen und Stoßen verhindern. Dreh- und Angelpunkt ist der vorhandene Raum, denn der Bewegungsradius von 360 Grad muss in irgendeiner Form eingehalten werden. Dabei stellen sich Fragen: Wo kann ich langfahren? Wie kann ich mich bewegen? Kann ich vorwärts und rückwärts fahren? Diese Punkte sind die Ausgangsbasis, damit die Architektin die Küche in einer 3D-Ansicht abbilden kann.

Ein Beispiel wäre: Um einen heißen Kuchen sicher aus dem Ofen zu holen, muss er stabil gegriffen und direkt abgestellt werden können. Denn mit der heißen Kuchenform lässt es sich nicht gut fahren. Die Höhe der herausziehbaren Ofengitter ist für den Kraftaufwand entscheidend. Hier hilft es, ein Szenario in der Musterküche nachzuspielen: seitlich am Ofen anfahren, die Tür öffnen, welche im Schrank verschwindet, die darunterliegende Abstellfläche aus dem Schrank herausziehen, danach das Gitter oder Blech herausziehen. Den Kuchen greifen, heben, abstellen.

Für den frisch umgezogenen Reifferscheidt wurde in den Musterküchen erlebbar, worin die Unterschiede zu seiner nur »barrierearmen« Küche lagen: Hier konnte er Kochfeld und Spüle unterfahren, Geschirrspüler oder Kühlschrank in greifbarer Höhe öffnen, per Knopfdruck einen Oberschrank nach unten fahren lassen oder die Arbeitsplatte elektronisch oder per Handkurbel auf seine Höhe anpassen.

Hand öffnet Schrank ober dem Herdin dem Behälter stehen
Foto: Kesseböhmer GmbH

Abwägen und Auswählen

Mit dem Ausprobieren kam die Qual der Wahl: Soll ein manuelles Liftsystem in die Einlegeböden der Oberschränke eingebaut werden, die dann mit einem Griff nach unten gezogen werden? Erreichbar wären die Griffe mit einer Greifhilfe. Oder lieber ein ausziehbarer Lift, der bei etwa 250 Euro liegt? Soll es der Geschirrspüler von AEG sein, der auch voll beladen leicht herausfahrbar ist? Oder lieber ein Mini-Geschirrspüler auf der Arbeitsplatte? Antje Voss führt in aller Ruhe durch die Küchen und bringt mit ihrem Erfahrungsschatz eine breite Palette an Ideen mit.

Am Ende müssen die Ratsuchenden für sich entscheiden: Was will ich? Und wo liegt mein Budget? Denn die Preisspanne ist hoch: Liegt die exklusive Musterküche mit elektronischen Liftsystemen bei 25 000 Euro, ist die IKEA-Küche mit manuellen Lifts um die Hälfte preiswerter.

Auch Daniel Reifferscheidt fiel die Wahl schwer: Er überlegte hin und her, überschlug grob die Kosten und kam zu dem Ergebnis: »Ich kenne mich selbst: Ich setze mir lieber Liftsysteme, die elektrisch laufen, anstelle von Handkurbelliftsystemen, bei denen ich mich jedes Mal ärgere, weil ich die Platte wieder hochkurbeln muss.«

Küchenzeile mit Spülbecken
Foto: Ropox A/S / www.ropox.com

Planen, Verwerfen, Weiterplanen

So ein Küchenumbau braucht Zeit – und Nerven. Denn selbst wenn es vom Platz her passt, von der Handhabung her stimmt und im Kostenbudget liegt, heißt das noch nicht, dass die Umbaufirma es auch umsetzen kann. Reifferscheidt erinnert sich: »Frau Voss und ich hatten die Idee einer Küchenabzugshaube, die
hinter dem Ceranfeld in der Arbeitsplatte eingebaut ist. Das ging bautechnisch nicht.« Das hieß für beide, die Idee zu verwerfen und weiter zu recherchieren, um auf eine pfiffige Lösung zu kommen: »Jetzt habe ich eine mobile Abzugshaube: ein Gerät auf Gummifüßen, das man in die Steckdose steckt, anschaltet, und dann saugt es freistehend neben dem Ceranfeld den gesamten Dampf ab. Und das Gerät passt in eine Schublade oder eine Ecke«, freut sich der frischgebackene Küchenbesitzer.

Was der mittlerweile erfahrene Küchennutzer anderen mit auf den Weg geben kann: »Fragt euch: Was will ich selber? Meinungen einzuholen ist okay. Aber man muss auch schauen, ob es mit der eigenen Grundidee übereinstimmt. Verbiege ich mich für irgendwelche anderen Leute?« Das ist ihm im Laufe des Prozesses passiert und hat seine halbe Planung umgeworfen: »Ich hatte keine Lust mehr zu planen, deshalb sollte es ein
Liftsystem werden, das für den Küchenbauer einfacher war. Das wäre aber für mich unpraktischer geworden.« Das heißt: Es lohnt sich, sich eine lange Planungszeit zu nehmen, um im Fall der Fälle den Stift neu ansetzen zu können.

Kurbel für höhenverstellbare Küchenzeile
Foto: Manulift 6350 / www.granberg.de

Zeit und Absprachen

Doch was ist, wenn es schnell gehen muss, weil man nach einem Unfall die bisherige Wohnung nicht mehr vollumfänglich nutzen kann? Dann starten die Experten im Beratungszentrum ein Nothilfeprogramm, beraten auch ohne Termin, geben Kontakte zu erfahrenen Firmen weiter und verweisen auf die Beratung im Sozial- und
Entlassmanagement der Krankenhäuser. Auch eine Anfrage beim Vermieter wird unterstützt.

Frau im Rollstuhl räumt Geschirr in Schrank der unterfahrbare Küchenzeile
Foto: Ropox A/S / www.ropox.com

Fragt euch: Was will ich selber?

Denn wer als Mieter umbauen möchte, muss sich das immer vom Vermieter schriftlich genehmigen lassen. Dann kann auch eine Vereinbarung getroffen werden, dass bei fachgerechtem Einbau und finanzieller Einigung die Küche drin bleibt.

Im Fall von Daniel Reifferscheidt war der Vermieter verpflichtet, den Umbau zu gestatten (siehe Infokasten). Unter der Bedingung, dass die Einbaufirma der Originalküche den Umbau umsetzt und jede Änderung vorher genehmigt wird. »Das betraf selbst eine simple Steckdosenerweiterung«, erzählt der Azubi. »Das ist zwar normal, aber sehr nervig, weil es die Vorgänge verzögert.«

geöffneter Küchenherd
Foto: Margarethe Quaas

Der Fall Küche

Ein Jahr, fünf Besuche bei Frau Voß, zahlreiche Telefonate und Recherchestunden später: Was fehlt noch? »Der Backofen ist noch nicht der Originalbackofen, sondern ein Leihbackofen, bei dem die Klappe nicht einsenkbar ist. Und er funktioniert nur, wenn die Hauptsicherung neu eingesteckt wird – ein Stromlastproblem«, lautet
der etwas nüchterne Lagebericht des jungen Planers. »Und ein Liftsystem ist auch noch nicht funktionsfähig.«

Doch es gibt auch Lichtpunkte in Reifferscheidts langer Küchengeschichte: »Ich bin schon super-glücklich, das Ceranfeld nutzen zu können.« Weil er während der Ausbildung wenig Zeit hat, heißt das: »Bolognesesauce mit Gewürzen abschmecken und die Packung Nudeln zum Kochen bringen.« Das macht er mal mit Unterstützung, mal ohne, je nachdem, in welcher Tagesform er gerade ist.

Steckerleiste mit Dreierstecker auf Arbeitsplatte
Foto: Margarethe Quaas

Finanzielle Unterstützung

Wer einen Pflegegrad zugewiesen bekommt, kann einen Zuschuss in Höhe von bis zu 4 000 Euro beantragen. Der Betrag ergibt sich aus dem nachgewiesenen behinderungsbedingten Mehraufwand.

Für Eigentümer zahlt die Investitions- und Förderbank in Hamburg Zuschüsse bis zu 15 000 Euro.

barrierefreie Küchenzeile
Fotos: Reiferscheidt privat

Eine gebührende Einweihung ist aber in jedem Fall geplant. Sobald die Ausbildung vorbei ist, die Wochenenden wieder frei und die Küche fertig ist, wird mit einem Krimi-Dinner gefeiert. Dann lädt Reifferscheidt Freunde und Familie ein. Was gekocht wird, steht in den Sternen, beziehungsweise in der Spielepackung. Es soll ein Dinner werden, bei dem gleichzeitig ein Mordfall aufgeklärt wird. »Der Fall Küche wäre damit auch abgeschlossen«, scherzt der zukünftige Küchendetektiv.

Es gibt seit Oktober 2020 die gesetzliche Änderung, dass der Vermieter einen Umbau aus ästhetischen Gründen nicht verbieten darf. Einen Antrag auf Umbau aus gesundheitlichen Gründen, damit man in der Wohnung bleiben
und dort eigenständig leben kann, darf ein Vermieter nicht mehr ablehnen. Er darf aber auf den gesetzlich verpflichteten Rückbau bestehen und muss sich nicht an den Kosten beteiligen.

Kontakt

Für einen Ersttermin wenden Sie sich bitte an:

Für alle Menschen, die in Hamburg gemeldet sind, ist die Beratung bei Barrierefrei Leben e. V. kostenfrei. Alle Beratungsleistungen zum Thema Barrierefreiheit werden von der Hamburger Sozialbehörde gefördert. Damit ist der Standortbereich gebunden.

Für die Beratung ist eine Terminvereinbarung erforderlich.

Dagmar Schlüter
Telefon: (040) 2999 56-0
E-Mail: empfang@barrierefrei-leben.de
Montag 12:00 – 18:00 Uhr
Dienstag: 12:00 – 18:00 Uhr
Donnerstag: 10:00 – 18:00 Uhr

Jeden Montag werden Zeitfenster zur Besichtigung der Ausstellungsräume angeboten. Telefonische Voranmeldung erforderlich.

Beratung außerhalb von Hamburg:

Für Ratsuchende aus ganz Deutschland empfiehlt sich der Blick auf den Online-Ratgeber:

www.online-wohn-beratung.de

Dort werden alle Informationen aus 30-jähriger Erfahrung zusammengetragen und weiterführende Kontakte, Herstellerangaben, Produktangaben und Verlinkungen zu Hilfsmittelkatalogen aufgelistet.

Auf der Webseite der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungsanpassung (BAG) gibt es unter »Beratungsstellen« für jedes Bundesland Kontaktadressen:

www.wohnungsanpassung-bag.de

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