„Let´s Talk about sex, baby“: Humor, Eigenwahrnehmung und Selbstbewußtsein sind für viele ein Schlüssel zu befriedigender Sexualität
von Gerti Keller
Manchmal geht alles, manchmal erfordert es mehr Planung, und manchmal treibt er einen zur Verzweiflung: Sex mit Behinderung. Er ist genauso bunt wie das Leben, aber mitunter auch ein großes Fragezeichen. Wir lassen fünf Rollstuhlfahrer erzählen.
Beim ersten Blind Date war Vanessa* noch »total gehemmt«. Erst recht, als sie in der Bar auf einen schönen Mann traf, der offensichtlich Martial Arts betrieb. Doch schnell konnte er ihr die Ängste nehmen. »Er hat es mir ganz leicht gemacht und gesagt: Klar, du hast ‘ne Behinderung und ich will dir nicht wehtun. Rede mit mir, dann wird es gut«, erinnert sich die 41-Jährige, die seit 20 Jahren aufgrund fortschreitender Muskeldystrophie im Rollstuhl sitzt.
Gerade erst hatte sie eine 16-jährige Beziehung beendet. Der Grund: Darin spielte Sex eben keine Rolle, was ihr Partner, der kein Handicap hatte, auch noch mit ihrer Behinderung begründete hatte. Jetzt wollte sie wissen, ob andere Männer dies auch so sahen und meldete sich auf einem Sex-Portal an. Und siehe da, sie bekam nicht wenige Zuschriften. Inzwischen hat sie »eine ganze Reihe Jungs« getroffen. Immer bei ihr zu Hause, zur Sicherheit ist die Nachbarin eingeweiht und hat den Wohnungsschlüssel, denn ohne Hebevorrichtung kommt sie mit ihren 95 Kilo nicht ins Bett.
Und mittlerweile geht sie viel offensiver damit um. »Ich kläre meine Behinderung von vornherein im Chat und mache deutlich: Wenn du mit mir in die Kiste willst, musst du mich mit dem Lifter in die Waagerechte kriegen, ausziehen und in eine bestimmte Position legen«, erzählt sie und beschreibt: »Wenn ich auf dem Rücken liege, geht eigentlich alles, denn ich bin biegsam wie ein Stück Draht. Ich werde nur niemals oben liegen. Auch das sage ich vorher. Die Männer müssen sich eben eher mir zuwenden.«
Körperlich geht alles
Bislang lief alles »easy«. »Wir machen uns einfach einen schönen Abend«, so die Frührentnerin. Manch ein Kontakt schläft danach wieder ein, andere sind on und off und zwei sind aktiv. Mit einem ihrer Liebespartner spielt sie auch Schach. »Wir verstehen uns gut, lachen viel. Ich will mich aber noch nicht in eine neue Beziehung stürzen, sondern bin gespannt auf neue Kontakte«, betont Vanessa. Alles gut also.
Das Einzige, was sie ärgert, ist, dass Sex mit einer »Behinderten« nicht ins gesellschaftliche Bild passt. »Dabei habe ich so viel Spaß mit den Typen«, lacht sie – und erinnert sich sehr gerne an das erste Date zurück. »Als wir nach Hause kamen, war meine Assistenz überraschenderweise noch da, weil sie noch etwas am Computer tun wollte. Sie schaute erstaunt, als wir kamen und ich zu ihr rüber rief: Jetzt musst du aber mal wirklich Feierabend machen. Toll war auch, dass der Muskelprotz den Lift gar nicht brauchte. Er hat mich einfach gehoben.«
Längst ist das Internet die Kontaktbörse für Menschen mit Handicap. Auch Linda* ist dort unterwegs, wurde aber noch nicht so richtig fündig. Seit einer langjährigen Beziehung weiß die Spastikerin, dass »körperlich eigentlich alles geht«, und das möchte sie wiederhaben. »Nähe ersetzt keinen Sex«, meint sie. Daher findet sie auch Kuschelmassenveranstaltungen, zu denen sich wildfremde Leute verabreden, nicht so toll.
Außerdem muss für Linda eine persönliche Beziehung dabei sein. »Ich wünsche mir eine erfüllte Sexualität, abwechslungsreich im Sinne von verschiedenen Praktiken, aber nicht mit verschiedenen Partnern«, erklärt die 48-Jährige. Und obwohl es sie nervt, dass viele ihrer Online-Kontakte schon in der dritten Email nach ihrer Oberweite und Nacktfotos fragen, bleibt sie am Ball. Denn: »Wenn man nur zuhause ist und nichts macht, passiert auch nix.« In drei Wochen hat sie das nächste Blind Date. Geskyped haben sie schon.
Positiv denken macht attraktiv
Steffen* wiederum ist seit acht Jahren mit Sebastian* zusammen und zufrieden mit seinem Liebesleben. Zwar klappt Sex im Stehen nicht mehr, sagt er nicht ohne Ironie. »Darüber hinaus geht aber alles, was wir möglich machen«, so der 34-jähriger Öffentlichkeitsarbeiter: »Über die Jahre haben wir ein Gefühl entwickelt, was funktioniert und was nicht. Es geht ja nicht nur um die reine Befriedigung, sondern auch darum, Zweisamkeit zu genießen. Das macht ebenfalls glücklich.«
Allerdings sollte man schon dafür sorgen, dass die Erotik spannend bleibt, findet er. Vielleicht kaufen sie sich demnächst eine Sexschaukel. Um die Zukunft macht er sich ansonsten keine Gedanken: »Wir wissen beide, dass meine muskuläre Erkrankung fortschreitend ist. Ich bin aber nicht der Typ, der fünf Jahre vorausdenkt und einen Plan macht. Es kann schließlich immer irgendetwas Unvorhergesehenes passieren. Ich denke einfach positiv. Das macht attraktiv und kann die Behinderung sogar überstrahlen.«
Fesselspiele helfen bei Spastiken
Selbstbewusstsein macht eben sexy. Das gilt auch für den charismatischen Christian, der wohl mehr erlebt als viele Nichtbehinderte. Denn der 30-Jährige, der seit Kleinkindalter unter spinaler Muskelatrophie (Typ 2) leidet, hat derzeit vier feste Freundschaften: ein Paar, einen Mann und eine Frau. Er ist pansexuell, polyamor, verortet sich irgendwo zwischen den Geschlechtern und lebt seine Vorliebe für BDSM aus – darunter versteht man verschiedene erotische Spielarten rund um Bondage, Dominanz und Unterwerfung.
BDSM sei keine körperliche, sondern eine charakterliche Eigenschaft, betont Christian. Dabei nimmt er meist den devoten Part ein, denn: »Hier kann ich nahezu alles tun, wie ein gesunder Mensch. Nur meine Wege dahin sind oft anders«. Er erklärt allerdings: »Teilweise muss mein Spielpartner mir Hilfestellung leisten, um mich in eine gewisse Stellung zu bringen, beispielsweise beim Bondage. Ich selbst fessele nicht, weil ich das motorisch nicht kann. Ich bin ja nicht einmal fähig, mein Glas selbst zu heben.«
Gesellschaftlich mag es teilweise noch Vorurteile gegen Praktiken wie Fesseln, Dominanz oder Unterwerfung geben. Dabei können einige dieser Praktiken Menschen mit Handicaps sogar Vorteile bringen: »Bondage ist bei gewissen Spastiken sehr hilfreich, weil es den Druck aus der Situation nimmt. Man kann sich dann einfach nicht mehr bewegen«, informiert Christian.
Zudem lässt sich bei einigen Liebesspielen auch die Körperwahrnehmung schulen. »Beim Sinnesentzug, zum Beispiel durch das Verbinden der Augen, ist es durchaus möglich, dass unsensible Körperstellen besser wahrgenommen werden können«, so Christian. Er hat es schon erlebt, dass manche Menschen an vermeintlich tauben Stellen auf einmal etwas gespürt haben, zum Beispiel in Nähe der Schulterblätter. Denn die erogenen Zonen können sich verschieben.
Der Blog ist eine Fundgrube
Christians Liebesabenteuer finden meist in einem Stundenhotel statt. Dann wartet die Assistenz an der Bar oder im Burger King auf der anderen Straßenseite, sodass sie immer innerhalb von zwei Minuten bei ihm sein kann. In Sachen Locations könnte allerdings noch mehr gehen, findet er. So würde er gerne mal einen Swingerclub und ein SM-Studio besuchen. Doch bislang ist kein Etablissement in München für seinen Elektro-Rollstuhl machbar. Immerhin hat er gerade ein barrierefreies BSDM-Apartment entdeckt, das er demnächst ausprobieren will.
Wer mehr über ihn lesen will: Christians Blog sexabled.de ist eine wahre Fundgrube. Darin berichtet er über seinen Selbsttest mit dem Männer-Vibrator Tenuto von MysteryVibe, stellt Dating-Portale vor und gibt pragmatische Tipps zur Profilerstellung. Für Interessierte hält er sogar eine Spotify-Playlist für Tantra bereit. Auch erzählt er im Blog von seinen Erfahrungen mit einer Sexualbegleiterin. Das ist für viele ebenfalls ein wichtiges Thema.
Wer klingelt an der Tür?
So sind sexuelle Dienstleistungen für Rollstuhlfahrer manchmal die einzige Möglichkeit, physisch intime Momente zu erleben. Wie für Achim*. Er lebt im ersten Stock einer Mietswohnung in einer rotverklinkerten, ehemaligen Arbeitersiedlung in Norddeutschland. Den Tag verbringt er zumeist im Wohnzimmer. Ein schlanker Mann in Kapuzenpulli und Jogginghosen, kurze Haare, glattrasiert, junges freundliches Gesicht. Er spricht leise.
Seit fünf Jahren kann der 43-jährige MS-Kranke nicht mal mehr den kleinen Finger eigenständig bewegen. Aber fühlen kann er alles. Er sehnt sich nach einer helfenden Hand, die sein Genital stimuliert. Eine Masturbationshilfe zum »SÜD abbauen«, nennt er das. »SÜD« steht für »Spermaüberdruck«. Er wünscht sich Abhilfe, egal wie. »Handjob oder Blowjob, Hauptsache Entlastung«, sagt er verzweifelt. Doch in seinem Alltag gibt es die nicht.
Achims persönliche 24-Stunden-Assistenten machen Grundpflege, kaufen ein, reichen ihm die Mahlzeiten und liften ihn auf die Toilette. Aber niemand legt Hand an sein Genital, außer mit Seife und Waschlappen. In seinen Phantasien träumt er von einer hübschen Frau, »nicht zu alt, schlank, mit kleinem Busen«, einer Bezugsperson, »die mich liebt!«. Am besten eine feste Beziehung oder wenigstens jemand, der ihm gelegentlich hilft, den SÜD loszuwerden.
Das Problem: Wie trifft er diesen Menschen? »Keine Ahnung«, sagt Achim. Sie müsste einfach mal an der Tür klingeln. Er hatte früher einige Male Sexualassistenz. Doch als Bezieher von Sozialhilfe kann er sich bezahlte sexuelle Dienstleistungen finanziell kaum erlauben.
Jeder Mensch ist anders
Dies sind nur fünf von abertausenden persönlichen Geschichten. Jeder und jede Rollifahrerin wird wohl eine andere Geschichte erzählen. Denn neben individuellen Einschränkungen ist auch die Sexualität stets individuell. Manche können alles, oft ist es anders, und mitunter funktioniert es nur noch mental. Menschen können auf verschiedene Weise Lust empfinden, und das größte Organ dafür sitzt zwischen den Ohren. Wie riechst Du? Wie schmeckst Du? Wie weich ist deine Haut?
Auch gibt es immer unerfüllte Wünsche. So würde Linda gerne einen Mann in der Öffentlichkeit, vielleicht in einem Tierpark, oral befriedigen. Auch Christian träumt von einem Outdoorabenteuer und »gibt die Hoffnung dar- auf nicht so schnell auf.« Wie ein befriedigendes Liebesleben aussieht, definiert jeder Mensch für sich anders. Es kommt zustande, wenn man es praktizieren kann und es einem guttut. Wichtig ist, offen zu sein. »Geht immer mit erhobenem Kopf durch die Welt, seht euch mit wachen Augen um, seid nicht so verschlossen, weicht vielleicht auch mal ein bisschen von euren Vorstellungen ab und versucht auch mal was ganz anderes – und wenn es nur schwarzer statt roter Nagellack ist, vielleicht fällt es ja jemandem auf«, lautet Lindas Tipp.
Christian wird noch genauer: »Lasst euch einfach mal die Augen verbinden und einen Eiswürfel über die Haut wandern. Die meisten Menschen werden dies intensiver wahrnehmen. Oder Ingwer, an gewissen Stellen. Lasst euch von einem Handicap nicht abschrecken und probiert es aus, höchstwahrscheinlich werdet ihr es nicht bereuen.«
Außerdem sollte das Thema dringend enttabuisiert werden, finden die fünf Rollifahrer. »Man kann doch nicht Dinge derart verschweigen. Es ist ein menschliches Grundbedürfnis, das alle haben. Wir müssen darüber sprechen«, resümiert Steffen.