Das kann er. Das will er. Und das geht.: Im Großraum München bringt Roland Nagl Menschen mit Behinderungen in den ersten Arbeitsmarkt
von Gabriele Wittmann
Wenn Roland Nagl von seinen Mitarbeitern erzählt, dann gerät er ins Schwärmen. Zum Beispiel von Herrn Nosworthy«. Der Brite kam durch eine Stellenausschreibung als Dozent zum Unternehmen. Durch seine leichte Sprachbehinderung redet er recht langsam. »Das ist bei alten Leuten wiederum gar kein Nachteil«, erklärt Roland Nagl. »Wir haben gemerkt: Dieser Mensch kann gut Dinge erklären, Dinge zeigen, Dinge reparieren.« Deswegen bildet Andrew Nosworthy heute als Dozent nicht nur Mitarbeiter weiter, sondern hilft auch Senioren bei ihren Problemen mit Computern.
»Wir haben eine Methode entwickelt, wie man Menschen aus den Werkstätten bekommt«, freut sich der 60-Jährige Roland Nagl. Und klingt mit Recht ein wenig stolz am Telefon. Denn als Betriebsleiter einer gGmbH hat er diese einzigartige Konstruktion selbst mit entwickelt. Sie firmiert unter dem Titel »Elf Freunde müsst ihr sein«, oder kurz: »Elf Freunde«.
Interessenten und Bewerber arbeiten nach ihrer Einstellung in verschiedenen Betrieben, wie »Freunde helfen« oder »Best Lunch« – je nachdem, welchen Wirtschaftszweig sie mit der gGmbH gerade aufbauen. »Wir ›sammeln‹ die Bewerber«, erklärt Roland Nagl das Konzept. »Sobald ein paar Mitarbeiter ähnliche oder sich ergänzende Talente aufweisen und gegebenenfalls weiter geschult wurden, gründen wir mit diesem Talentpool einen neuen Betrieb.« Das Unternehmen ist inzwischen organisch so gewachsen, dass die unterschiedlichen Betriebe ineinandergreifen. Und Arbeitsplätze kreieren. Dazu gehört der Bereich Pflege mit ambulanter Betreuung und haushaltsnahen Dienstleistungen, eine Gebäudereinigung, ein Büroservice, ein Computerservice für Senioren, eine IT- und Personalberatung für Unternehmen. Dazu kommen Qualifizierungsangebote in den Bereichen Büro, Verwaltung und Handel, Hauswirtschaft, Betreuungsassistenz, Sozialrecht und EDV.
Punktgenaue Profile
»Bei Bewerbern wird oft nur nach Qualifikationen geschaut«, ärgert sich Roland Nagl, »nicht nach Teil-Qualifikationen.« Gemeinsam mit dem Institut für Erwachsenenbildung und der Hochschule Hannover entwickelte er deshalb – damals noch im Rahmen der Isar-Würm-Lech- Werkstätten – 2011 zusätzliche Konzepte für Menschen mit Behinderungen für den »Profilpass«. Diese haben inzwischen in zwei Dutzend Einrichtungen in Deutschland die Runde gemacht.
Vier Stufen hat dieser Prozess. Als erstes werden die Stärken eines potentiellen Mitarbeiters erkundet. Dabei wird auch gleich mit erkundet: Wie werden aus Stärken Kompetenzen?. Danach werden die Motive ausgeleuchtet: Welche Wünsche, welche Träume haben die Menschen? Welche sind besonders ausgeprägt? Welche Tätigkeiten verrichten sie gern?
Erst dann geht es darum, die gesundheitlichen Rahmenbedingungen festzustellen. Zum Schluss vergleicht Roland Nagl das entstandene Profil mit Tätigkeitsfeldern auf dem regulären Arbeitsmarkt. »Dabei kommt dann heraus: Das kann er. Das will er. Und das geht«, sagt Nagl, »und das ist dann für den Teilnehmer auch plausibel.« Mit diesem Profil-Pass kann er jemanden punktgenau an Unternehmen vermitteln. Oder sie im eigenen Unternehmen unterbringen.
Reifenwechsel auf offener Straße
»Hey, den kannst du allein in die Wüste fahren lassen, der kann Auto!« freut sich Roland Nagl heute noch, wenn er von Mohammad Ajubi erzählt. Auch er kam durch eine Teil-Qualifikation zum Unternehmen. Der beinahe taube Vater von sieben Kindern ist seit zwölf Jahren anerkannter Flüchtling mit Bleiberecht. Da er kaum Deutsch spricht und schlecht hört, galt der Langzeitarbeitslose als schwer vermittelbar. In Afghanistan hatte er keinen Beruf erlernt. Die Kompetenzanalyse aber ergab etwas Ungewöhnliches: Er kann auf offener Straße Reifen wechseln. Traktor, LKW, Bus – kein Vehikel, das Mohammad Ajubi früher nicht gelenkt hat.
Die gGmbH brauchte damals Fahrer zum Ausliefern von der Zentralkantine. Inzwischen fährt Mohammad Ajubi nicht nur das Essen zu den Schülern. Er wartet auch den Fuhrpark.
Gerecht verdienen
»Wir wollen die Leute in den ersten Arbeitsmarkt bringen«, erklärt Roland Nagl. »Das ist uns ganz wichtig.« Wie viel zahlen sie im eigenen Unternehmen? Das kommt auf die Tätigkeit an. Alltagsmanager erhalten als Vollzeitkraft 2 100 Euro brutto. Für 25 Wochenstunden sind es immerhin noch 1 300 Euro brutto, genug, um ALG II hinter sich zu lassen. Für Altenpfleger ist der Satz deutlich höher. Ein examinierter Altenpfleger erhält 3 000 Euro brutto, eine Leitungskraft deutlich mehr.
Neue Märkte erschließen
»Wir sind in eine Marktlücke gestoßen«, erzählt Roland Nagl, wenn er über den Bereich der Pflege spricht. Die bürokratischen Hürden erinnert er als »gigantisch«, aber der Betrieb schaffte es schließlich, einen sogenannten haushaltsnahen Dienst aufzubauen. »Manche Betroffenen wissen das gar nicht«, erzählt der Betriebsleiter: »Man erhält ab Pflegegrad 1 nach §45 b SGB IX Entlastungsleistungen. Das sind dann nur 125 Euro. Aber damit kann man schon etwas bewegen.« Etwa 200 Kunden aus allen Pflegegraden erhalten inzwischen durch den Betrieb »Freunde helfen« ambulante Betreuung und Hauswirtschaftshilfe. 25 Mitarbeiter haben hier einen festen Arbeitsplatz bekommen, und der Betriebszweig wächst.
Das arme Kind
Der Betriebszweig »Best Lunch« entstand dagegen eher zufällig. Eigentlich war die gGmbH gerade dabei, einen Essens-Lieferdienst aufzubauen. Für die Zubereitung durften sie die Lehrküche einer Hotelfachschule nutzen. Eines Tages erfuhren sie, dass die Bausubstanz von einer Prüfabteilung beanstandet wurde. Die Zukunft schien gefährdet. Was tun? Mitten in die Krise kam der Anruf des Schulreferats: Ihr Caterer habe »hingeworfen« und sie hätten gehört, dass die Elf Freunde Essen für einen Lieferdienst kochen?
Sofort orientierten sich die Elf Freunde um. Sie folgten dem Trend der Ganztagsbetreuung in den Schulen, beteiligten sich im Landtag an den Ausschüssen zum Thema »Gesunde Schule«. Und fragten sich wieder: Was kann unser Alleinstellungsmerkmal werden?
Inzwischen kocht die gGmbH mit dem Betriebsteil »Best Lunch« in zwei Münchner Gymnasien und beliefert eine Grundschule. Die Mitarbeiter verwenden naturbelassene gesunde Zutaten aus regionaler und biologischer Erzeugung; Fleisch kommt nur zweimal pro Woche auf die Teller. Dazu gibt es immer ein vegetarisches Essen als Alternative.
Zunächst war das Alleinstellungsmerkmal eine Glaubensfrage. Manche Mütter riefen besorgt an: »Mein Kind isst nur Schnitzel, keine Beilagen.« Roland Nagl blieb ungerührt. »Das arme Kind muss bei uns Vitamine essen«, lacht er laut auf. »Aber da sind wir grausam.«
Die Taktik ging auf, laut Roland Nagl finden die Kinder ihr Schulessen inzwischen überwiegend super. Inzwischen hat der Betrieb weitere Anfragen bekommen. Aber der erfahrene Betriebsleiter meint: »Wir belassen es vorerst bei drei Schulen. Wir wollen gesund wachsen.«
Inklusive Pflege für Bayern
Was kommt als Nächstes? Inzwischen ist der Pflegedienst der Elf Freunde in Münchner Mehrgenerationen-Häusern unterwegs. »Übrigens der erste inklusive Pflegedienst in ganz Bayern«, erklärt Roland Nagl. Es wird mit Sicherheit nicht das letzte Projekt des passionierten Betriebsleiters sein. Denn er hat schon wieder eine neue Idee für ein Beschäftigungsmodell. Aber das ist eine andere Geschichte.