Wer steckt eigentlich hinter …CAST ME IN?

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Unter dem Titel »CAST ME IN – Schauspiel & Inklusion« fand im Kölner Filmhaus im Juni eines der ersten Events dieser Art in Deutschland statt: ein Kennenlern-Live-Casting, bei dem Macher aus Film und Fernsehen auf Schauspieler mit und ohne Behinderung trafen.

Die Idee dazu hatte Tina Thiele. Die 45-jährige Film- und Theaterwissenschaftlerin ist schon lange in der Branche unterwegs. Vor zwanzig Jahren war sie Casting-Direktorin des Kinoprojekts »Edelweißpiraten«, 2005 erschien ihr Fachbuch über das Thema »Casting«. Im gleichen Jahr gründete sie www.casting-network.de. Das Portal informiert über Ausbildungsmöglichkeiten und dient als Jobbörse für Komparsen und Profischauspieler.

Seit vielen Jahren macht sich Thiele stark für Inklusion in der Film- und TV-Welt. Nicht nur, aber auch, weil ihre Tochter als Frühchen zur Welt kam und heute im Rollstuhl sitzt. Zum International Film Festival Cologne stellte sie nun mit Rolf Emmerich, dem Leiter des inklusiven Kulturfestivals Sommerblut (2.v.l.) und Regisseur Anselm Diehl (2.v.r.) die inklusive Veranstaltung auf die Beine. Unterstützt wurde die Initiative von Erwin Aljucik (r.), der seit 23 Jahren auf der Bühne zu sehen ist. »Wir wollen unentdeckten Talenten eine Plattform geben«, so das Ziel von Thiele.

»Das hätte gesellschaftliche Auswirkungen«

Viele Menschen sitzen auf dem Boden in einem Raum und winken in Gebärdensprache
Foto: CastingNetwork / CedricSprick

Durch gezieltes Live-Casting sorgt eine Kölnerin dafür, dass Menschen mit sichtbaren Behinderungen Rollen erhalten

Menschen mit sichtbaren Behinderungen stellen rund sechs Prozent der Bevölkerung dar. Sie tauchen aber so gut wie nie auf der Leinwand oder im Fernsehen auf. Die Macher des Job-Speeddatings CAST ME IN! traten beim Kölner Filmfestival an, das zu ändern. Wir sprachen am Rande mit einer Produzentin und einem Schauspieler – und erfuhren, wie Rollifahrer an Rollen kommen. Diversität ist in aller Munde. Dennoch sieht man in deutschen Filmen und Serien kaum Menschen mit Einschränkungen. Und genau, weil das so ist, stehen die Chancen aktuell gut, eine Rolle zu ergattern. Denn: »Im Moment gibt es einen erhöhten Bedarf, weil die Branche tatsächlich ein Problem hat, Darsteller mit Behinderung zu finden. Alle, die Rollen wollen, sollten sich also jetzt bemerkbar machen«, erklärte die Produzentin Nina Viktoria Philipp, die sich auf der Veranstaltung »CAST ME IN!« im Sommer in Köln direkt nach geeigneten Kandidaten um[1]schaute. Auf dem Event trafen Agenten, Drehbuchautoren, Redakteurinnen und Regisseure auf 32 Menschen mit und ohne Behinderung. Beim Live-Casting setzten sie sich in Quartetten zusammen und lernten sich für je 30 Minuten kennen. »Ich habe heute ein paar interessante Talente entdeckt bei denen ich sofort Ideen für eine Geschichte und spätere Projekte habe«, erzählte Philipp, die für Constantin Television arbeitet.

Mehrere Personen sitzen an einem Tisch mit vielen Unterlagen und Getränken
Foto: CastingNetwork / CedricSprick

»Die Kandidaten brauchen Ausstrahlung«

Was brachten diese Kandidaten mit, um beim Casting zu überzeugen? »Ausstrahlung. Etwas, das mich einnimmt. Das ist wie im normalen Leben«, informiert Philipp. Denn viele Menschen mit Behinderung haben nun mal keine Schauspiel-Ausbildung. Staatliche wie auch private Schauspielschulen nehmen sie in der Regel nicht auf. Meist ist ein ärztliches Attest über einen »physisch und psychisch stabilen Gesundheitszustand« Voraussetzung. Mittlerweile gibt es aber einige Ausnahmen.

Fit für die Bewerbung

So bietet das inklusive Schauspielstudio Glanzstoff in Wuppertal aktuell fünf Vollzeit-Ausbildungsplätze am Schauspiel Wuppertal an. Die Otto-Falckenberg-Schule in München begrüßt inzwischen alle Bewerbungen, ausdrücklich auch unabhängig von Behinderungen. Die Akademie für darstellende Kunst adk-Ulm bildet pro Jahrgang maximal zwei Schüler mit körperlichen Einschränkungen aus. Die Freie Bühne München/ FBM e. V. wiederum führt verschiedene Workshops über das Jahr verteilt durch, an denen ausdrücklich jeder und jede ob mit oder ohne Behinderung teilnehmen kann. Und ein ganz heißer Tipp: Das Schauspiel Köln plant ein Training, das Menschen mit Beeinträchtigung fit macht für die Bewerbung an einer Schauspielschule. »Es passiert etwas, aber es gibt immer noch viel zu wenig Ausbildungsmöglichkeiten. Zumal Menschen mit Behinderung oft gar nicht die Möglichkeit haben, mal eben so in eine andere Stadt zu ziehen«, betont Erwin Aljukic. Der Profi-Schauspieler und Tänzer, der die Glasknochenkrankheit hat, war Pate der Veranstaltung.

Jede Chance wahrnehmen

Aljukic empfiehlt allen Interessierten, jede Gelegenheit zu nutzen, um Schauspielerfahrung zu sammeln – egal ob bei einem Kurs, einer Gruppe in der freien Szene oder auch als Komparse. »Ich kenne einen jungen Mann, der wird von seiner Mutter zu allen möglichen Komparsen Jobs gefahren. Potenzielle Arbeitgeber wissen dadurch, dass er zumindest Set-Erfahrung hat – und er wird schon mal ein bisschen bekannt«, so Aljukic. Der 45-Jährige sammelte seine erste Bühnenerfahrung bei einem Theaterprojekt in der Schule. Das war sein Sprungbrett, als 1998 ein Schauspieler mit Behinderung für die ARD-Serie »Marienhof« gesucht wurde. »Die haben einfach niemand gefunden und waren so verzweifelt, dass sie an meiner inklusiven Schule anriefen. Die Sekretärin wusste, dass ich Theater spiele.« Das Casting war nicht schwer, denn Aljukic war schlichtweg der einzige Bewerber.

Proaktiv anschreiben

Wie gelangt man zum Casting? »Schaut, dass ihr in den Datenbanken reinkommt. Das ist ein guter Anfang«, rät Philipp. Das heißt konkret, sich bei Schauspielervideos.de und »Die Kandidaten brauchen Ausstrahlung« Foto: CastingNetwork / CedricSprick Rollstuhl-Kurier 4-2022 73 »Proaktiv Casting-Büros und Agenten anschreiben« castupload.com zu registrieren. »Das sind die zwei großen Portale, auf denen alle Schauspielerinnen und Schauspieler zu finden sind«, betont Philipp. Ein kleines Vorstellungsvideo reicht.

»Proaktiv Casting-Büros und Agenten anschreiben«

Wer wegen fehlender Ausbildung Probleme mit der Registrierung hat, sollte die Plattformen direkt kontaktieren. Überhaupt, so lautet der Rat der Filmexpertin, könne man auch proaktiv Casting-Büros und Agenten anschreiben, die man leicht im Internet findet, und sich dort mit einem kleinen Demo-Tape präsentieren.
»Das reicht uns oft sogar, um zu sehen, was es für eine Persönlichkeit ist«, ermutigt Philipp. Bei Interesse erfolgt in der Regel zunächst eine Einladung zum Online-Casting. Zur Frage, ob die Sets barrierefrei sind, sagt die Produzentin: »Bei der Auswahl der Locations und Motive wird nicht auf Barrierefreiheit geachtet. Das muss man ganz klar sagen. Das sieht vor Ort wirklich sehr unterschiedlich aus.« Heißt: Im Extremfall findet der Dreh auch mal in einer Wohnung im vierten Stock ohne Aufzug statt. »Da müssen dann alle in den sauren Apfel beißen, mit anpacken und alles hochschleppen«, so die Filmfachfrau. Auch Aljukic sagt dazu ganz deutlich: »Jemand, der eine Behinderung hat und diesen Beruf ausüben möchte, kann sich entscheiden: Entweder ich nutze die Chance, auch wenn nicht alles total passabel ist, oder ich warte, bis es perfekt ist – und da kann ich lange warten.«

Einige Menschen sitzen an einem Tisch mit Unterlagen
Fotos: CastingNetwork / CedricSprick

Gesellschaftliche Auswirkungen

Wer wegen fehlender Ausbildung Probleme mit der Registrierung hat, sollte die Plattformen direkt kontaktieren. Überhaupt, so lautet der Rat der Filmexpertin, könne man auch proaktiv Casting-Büros und Agenten anschreiben, die man leicht im Internet findet, und sich dort mit einem kleinen Demo-Tape präsentieren. »Das reicht uns oft sogar, um zu sehen, was es für eine Persönlichkeit ist«, ermutigt Philipp. Bei Interesse erfolgt in der Regel zunächst eine Einladung zum Online-Casting. Zur Frage, ob die Sets barrierefrei sind, sagt die Produzentin: »Bei der Auswahl der Locations und Motive wird nicht auf Barrierefreiheit geachtet. Das muss man ganz klar sagen. Das sieht vor Ort wirklich sehr unterschiedlich aus.« Heißt: Im Extremfall findet der Dreh auch mal in einer Wohnung im vierten Stock ohne Aufzug statt. »Da müssen dann alle in den sauren Apfel beißen, mit anpacken und alles hochschleppen«, so die Filmfachfrau. Auch Aljukic sagt dazu ganz deutlich: »Jemand, der eine Behinderung hat und diesen Beruf ausüben möchte, kann sich entscheiden: Entweder ich nutze die Chance, auch wenn nicht alles total passabel ist, oder ich warte, bis es perfekt ist – und da kann ich lange warten.«

Leider ist Deutschland arg »hintendran«, was das Thema betriff. Länder wie Großbritannien sind da schon viel weiter. So hat die BBC seit vielen Jahren eine Quote nebst Diversity-Abteilung. Bereits vor zehn Jahren war es dort ganz normal, dass zum Beispiel im Kinderprogramm eine Moderatorin mit Down-Syndrom und ein junger Schauspieler im Rollstuhl zu sehen waren, erinnert sich Aljukic: »Das habe ich damals bei meinem Besuch in England erstaunt mitbekommen. Als ich zurückkehrte, war ich unfassbar frustriert, dass sich bei uns so wenig tut. Daher bin ich ein großer Verfechter der Quote.« Allen staatlich subventionierten Einrichtungen, egal ob Theater, Rundfunkanstalten oder Ausbildungsstätten, sollten die Gelder gekürzt werden, wenn sie die UN-Behindertenrechtskonventionen nicht umsetzen, findet Aljukic. »Dann würde man sich umgucken, wie schnell das auf einmal geht«, fordert er. Das hätte auch gesellschaftliche Auswirkungen: Wenn mehr Menschen mit Einschränkungen in Kino und TV zu sehen wären, dann würde das auch den Blick auf sie verändern – vor allem, wenn sie »ganz normale« Rollen bekämen und nicht nur »Behinderte« spielen müssten. Dafür sei wichtig, dass es auch eine Quote hinter der Quote gibt.

»Als ich anfing, hat mich niemand gefragt: ‚Erwin, findest du das eigentlich okay, wie das geschrieben ist?‘ Mir wurden die Drehbücher vor die Nase geknallt, und wenn ich dann meinte, das ist ja ganz furchtbar und bereitet mir Bauchschmerzen, dann wurde das abgetan«, so Aljukic, der seit 2020 zum Ensemble der traditionellen Münchner Kammerspiele gehört. Dort sind demnächst Autoren- und Regietandems geplant, ein kreativer Kopf mit und einer ohne kognitive Beeinträchtigung. »Man fängt an, zu verstehen, dass man nicht etwas auf die Bühne bringen kann, ohne mit den Leuten zu sprechen, über die wir sprechen. Wenn von Anfang an authentische Stoffe entwickelt werden, dann können sich auch Zuschauer mit Behinderung mit den Geschichten und Rollen wirklich identifizieren. Dann gibt’s auch keine Klischees.« Allerdings ist hier das Theater viel weiter als der Film. Doch den einen oder anderen Lichtblick gibt es im deutschen Fernsehen mittlerweile. So spielt Tan Çağlar, den die Rückenmarkserkrankung Spina bifida in den Rollstuhl gebracht hat, in der Serie »In aller Freundschaft« einen Chirurgen und ist seit 2021 der neue Ermittler Malik Aslan im Berliner Tatort. Er schaute übrigens auch auf der Veranstaltung in Köln vorbei.

Drei Dinge, die viele Arbeitgeber nicht wissen:

  1. Locations müssen nicht barrierefrei sein.
  2. Menschen mit Behinderung können einen Arbeitsassistenten bekommen. Diese kümmern sich darum, wie Rollstuhlfahrende zum Beispiel zum Set kommen.
  3. Für Arbeitgeber, die Menschen mit Behinderung besetzen, gibt es Zuschüsse über die zuständigen Träger.
Mädchen im Rollstuhl auf einer Bühne
Foto: Uwe Schinkel / Schauspiel Wuppertal

»Ich mache meinen Traum wahr«

Die 24-jährige Flora Maya Li entdeckte ihre Liebe zum Theater bereits auf der integrativen Waldorfschule. Aktuell absolviert sie den ersten Jahrgang der Schauspielausbildung im Inklusiven Schauspielstudio am Schauspiel Wuppertal – und hat große Ambitionen, trotz spastischer Tetraparese.

Was reizt Sie an der Schauspielerei?

Ich kann mich ganz anders ausdrücken – und auf diese Weise auch der Gesellschaft zeigen, dass ich selbstbewusst bin. Ich mache meinen Traum wahr und glaube an mich. Nebenbei möchte ich auch der Agentur für Arbeit beweisen: Es geht eben doch! Denn die erkennen das als Ausbildung bei mir nicht an. Das bedeutet auch, dass ich keinen Fahrdienst bekomme. Zum Glück gibt es das Auto meiner Eltern.

Worin besteht für Sie die Herausforderung?

Eine neue Rolle bedeutet für mich immer neue und vor allem körperliche Herausforderungen. Damit ich das kräfte- und stimmmäßig schaffe, ist es wichtig, vorher alles gut abzusprechen. Das Tolle daran ist aber auch, dass ich entdecke, was mir alles gelingen kann – obwohl ich vorher dachte, das sei unmöglich.

Was sind Ihre nächsten Pläne?

Am Schauspiel Wuppertal spiele ich in zwei Neuproduktionen mit: dieses Jahr noch in »Der Nussknacker« und nächstes Jahr in Thomas Manns »Zauberberg«. Danach würde ich gerne auch mal eine richtig böse Rolle spielen.

Fragen: Gerti Keller

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