Im Selben Takt

von Gabriele Wittmann

Eine Frau und ein Mann tanzen miteinander
Foto: Ralf Kuckuck

Wer einmal infiziert ist, tanzt für immer

Worin liegt der Kern des Tanzens? »Im Schwofen«, sagt Andrea Naumann-Clément. Die bodenständige Antwort erstaunt zunächst: Die 60-Jährige war viele Jahre lang die Beste im Kombi-Turniertanzen. Sie begann als junge Frau im Breitensport, irgendwann gewann sie alle Wettkämpfe. »Gott, jetzt kommt die Naumann, dann ist der Preis schon vergeben«, murrte es damals auf den Rängen. Mit ihrem Mann, dem kürzlich verstorbenen Jean-Marc Clément, errang sie vierzehn Mal die Deutsche Meisterschaft. Trotzdem ist sie ihrem »Kern« treu geblieben. Denn sie weiß: Das »Schwofen« verbindet sie mit allen, die gern tanzen. Sie erklärt den Begriff so: »Jeder hat sich schon mal auf einer Fete zur Musik durch die Gegend geschoben und bewegt.«

Zuwachs erwünscht

Rollstuhl-Tanzsport ist inklusiv: Es gibt sogenannte »Duos«, bei denen beide Personen im Rollstuhl sitzen. Es gibt »Kombis«, bei denen sitzt nur einer im Rollstuhl. Und es gibt »Singles«, die es genießen, allein ihre Emotionen zu vertanzen. Bei Andrea Naumann-Clément kann jeder an der wöchentlichen Trainingsstunde in Frankfurt am Main teilnehmen. Allerdings muss die Übungsleiterin für den Deutschen Tanzsportverein vorher wissen, welche Einschränkungen vorhanden sind: »Es macht keinen Sinn, jemandem, der TH6-gelähmt ist, zu sagen: Bewege deine Hüfte!« Wenn jemand neu in die Gruppe kommt, allein oder als Paar, stellt Naumann-Clément die »Neuen« kurz vor. Dann stellt sie Musik an und beschäftigt sich mit ihnen besonders intensiv, bis sie ins bestehende Team eingebunden sind: »Nach dem ersten Abend können die Neuen dann schon ein oder zwei Figuren tanzen.«

Hand und Bein

Drei Personen mit und ohne Behinderung präsentieren eine Tanzfigur
Foto: Naumann-Clément privat

Und dann geht es ins Detail. Es geht um Rhythmus, Taktgefühl und Koordination. Und darum, Bewusstsein in alltägliche Bewegung zu bringen. Wo kommt die Bewegung her? fragt die Trainerin. Bei den Fußgängern ist es die Entdeckung, dass das Standbein die Bewegung ermöglicht, weil dadurch das Spielbein frei wird. Wenn das linke Bein also rechtzeitig gut ruht, kann das rechte pünktlich einen Schritt tun. Ähnlich ist es bei den Rolli fahrenden, die ihre Hände rechtzeitig vorbereiten müssen: Wer eine Drehung nach rechts plant, muss schon im Takt auf der »7–8« die Hände oben am Rad liegen haben, um pünktlich Druck geben zu können auf der nächsten »1«. Körperspannung ist das A und O für das Training bei Andrea Naumann-Clément. Es geht darum, die Wirbelsäule aufzurichten und Spannung in die Körperseiten zu geben. »Dann sind meine Arme schon mal viel leichter«, weiß die Trainerin, »denn sie werden durch die Seiten gehalten.«

Den Körper spüren

Bettina Jungkunz macht es Spaß, mit ihrer Trainerin an Figuren zu tüfteln: »Wie bekommt man etwas hin, sodass es sich innerhalb der Bewegungen zu einem Ganzen fügt?« Die 50-Jährige war schon als Fußgängerin eine geübte Standard -Tänzerin. Als sich ihre MS verschlechterte, fragte sie in ihrem Tanzsportclub TC Rot-Gold Würzburg, ob sie auch im Rolli trainieren dürfe. Kein Problem, hieß es, solange sie keine Striemen am Boden hinterlasse. Sie war sich sicher, dass das nicht passiert, denn: »Man bremst nicht von Hundert auf Null.« Warum nicht auch jetzt an frühere Erfolge anknüpfen? dachte sich die Tanzbegeisterte. Also trainieren sie und ihr Partner jetzt zusätzlich mit Andrea Naumann-Clément ganz unkompliziert. Mal fährt das Paar zu Privatstunden nach Frankfurt, dann wieder schicken sie ihr ein Video und bekommen hilfreiche Korrekturen per Telefon. »So müssen wir nicht so viel fahren.« Jungkunz liebt das »feine Herausarbeiten«, wie sie es nennt: »Es ist interessant, zu merken, was der Körper tut, wenn ich nur eine Winzigkeit verändere. Ich ziehe den rechten Muskel nur ein bisschen mehr an, und schon komme ich im Rolli schneller um die Kurve. Daran fummelt man natürlich eine ganze Weile rum«, erzählt Jungkunz. Aber es lohne sich: »Dieses wunderschöne Gefühl, tanzen zu können. Und tanzen zu dürfen! Was ich ja eigentlich – aus Fußgängersicht – gar nicht mehr tun könnte!« Was fasziniert die Tänzerinnen an ihrem Sport? Für Bettina Jungkunz ist es vor allem die Freude. Und dazu gehört auch die Vorfreude: »Man denkt nicht: Nach diesem blöden Tag werde ich abends am Fernseher vor mich hingammeln. Sondern ich freu mich schon morgens auf das Tanzen am Abend.«

Single und Formation

»Ich war immer die Einzige«, erzählt die junge Hannah Uerschelen, und versucht heute, es mit Humor zu nehmen: In der Schule war sie die Einzige im Rollstuhl, später in den Sportvereinen auch wieder. Dann lernte sie Andrea Naumann-Clément kennen. »Ich war plötzlich Teil des Ganzen«, erinnert sie sich, »so kannte ich das vorher nicht.« Sie entwickelte Spaß daran, im Para-Leistungssport aktiv zu sein, und zwar als Single-Tänzerin. »Andrea war schon immer extrem wichtig für mich, sie hat mich immer unterstützt und steht hinter mir.« Zur Zeit ist die junge Studierende mit ihrer Masterarbeit beschäftigt und tanzt nur aus Spaß – wie zuletzt in der Formation, die beim internationalen Manhattencup als Pausennummer mit quietschorangen Perücken auftrat.

»Woher kommt die Bewegung?«

»Ich kann alles in einen Tanz packen«

Mehrere Personen mit Rollsuhl und Perrücken beim üben eine Tanzfigur ein
Foto: Naumann-Clément privat

Den Single-Tanz kann sie aber weiterhin empfehlen, denn: »Egal, ob ich fröhlich bin oder traurig oder wütend: Ich kann alles in den Tanz packen. Und danach geht es mir besser.« Fünf Minuten reichen schon, um sich zu befreien, berichtet Uerschelen. »Jetzt am Wochenende hat ein Tanz gereicht.«

Die kleinen Muskelansätze

Die positiven gesundheitlichen Auswirkungen des Tanzens sind belegt. Und sie sind vielfältig: Botenstoffe werden ausgeschüttet, die das Wohlfühlen herbeiführen. Das tut Psyche und Immunsystem gut. Durch die Drehungen bleibt die Wirbelsäule beweglich, es fällt dann auch im Alltag leichter, Sachen vom Boden aufzuheben. Das Training von körperlicher Stabilität hilft andererseits auch dem Rücken, gerade zu bleiben – auch bei der Computer-Arbeit daheim. Die Armmuskulatur wird trainiert, sodass das Schieben leichter fällt. Doch an dem Punkt stellt die Trainerin klar: »Es geht nicht so sehr darum, äußere Arm-Muskulatur aufzubauen«, so Naumann-Clément. »Ich lege mehr Wert auf die Binnen-Muskulatur, die reflektorisch reagiert. Ich versuche, nicht so viel mit Kraft zu arbeiten, sondern mit dem ganzen Körper.« Es geht der Trainerin um die kleinen Muskelansätze, von denen Bewegung ausgeht.

Tipp

Wer am eigenen Wohnort eine Möglichkeit für das Rollstuhl-Tanzen sucht, kann auch bei örtlichen Anlaufstellen aus der Behinderten-Selbsthilfe-Szene anfragen, rät Bettina Jungkunz: »Da weiß immer jemand was von irgendwo.«

Interesse?

Wer eine Tanzsportgruppe in der Umgebung sucht oder eine neu eröffnen möchte, wende sich an: Andrea Naumann-Clément, Fachbereichsvorsitzende DRS Rollstuhltanz

Foto: Ralf Kuckuck

Und damit geht es auch um das Training von Balance, was wiederum eine gute Sturzprophylaxe ist.

Im Regen tanzen

Wann ist ein Tänzchen gelungen? »Wenn alles leicht und mühelos aussieht und auf der Musik sitzt«, sagt Andrea Naumann-Clément. »Und wenn der Tanz mich anspricht. Wenn er mich abholt und ich mich beim Zusehen unterhalten fühle.« Wenn jemand im Rolli sitzt und strahlt, dann weiß die Trainerin: Die Leute haben Spaß. »Manchmal hat du Glück und findest eine Seele, die im selben Beat wie deine tanzt«, lautet ein beliebter Spruch der erfahrenen Tänzerin. Oder: »Wir tanzen im Regen, statt darauf zu warten, dass das Unwetter vorbeizieht.« Naumann-Clement weiß: Man tanzt für immer. »Wer infiziert ist, den trägt das Tanzen auch immer ein bisschen.«

Würzburg

Interessierte aus Würzburg und Umgebung können sich bei Bettina Jungkunz melden: Bettina Jungkunz

Berlin

In Berlin und Umgebung bietet auch Andrea Volkmann Rollstuhl-Tanzen an: Andrea Volkmann

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