Aus Liebe zu seinem Sohn
von Anja Stürzer
Aus Liebe zu seinem Sohn
Pflege geht alle Menschen an, denn jeder ist früher oder später davon betroffen – das ist die zentrale Botschaft von Arnold Schnittger. Um ihr Gehör und Aufmerksamkeit zu verschaffen, startete der freischaffende Fotograf ein ungewöhnliches Projekt: Mit seinem mehrfach behinderten Sohn Nico im Rolli wanderte er im Sommer 2018 rund 1 000 Kilometer »meckernd« quer durch Deutschland von Flensburg bis zum Bodensee.
In seinem Buch beschreibt Schnittger diesen Protestmarsch und gibt mit beißendem Humor Einblick in seinen langjährigen Pflegealltag und in die teils grotesk anmutenden Auseinandersetzungen mit den Behörden. Da er aufgrund der Pflegesituation seinen Beruf nicht mehr ausüben kann, beantragt er Hartz 4 – und soll in der Folge immer wieder regelmäßige Bewerbungen sowie die fortdauernde Pflegebedürftigkeit seines Sohnes nachweisen. Aufmüpfig wie er ist, bewirbt er sich schließlich als Pilot bei Lufthansa – nicht ohne unerwähnt zu lassen, dass er aufgrund der infantilen Zerebralparese seines Sohnes voraussichtlich nur eingeschränkt zur Verfügung stehen wird.
Slapstick-Qualität hat auch die Szene, in der Schnittger Nico allein zum Sozialarbeiter schickt, nachdem die Fallmanager diverse schriftliche Eingaben von ihm schlicht ignoriert hatten
Bei aller Komik hat die Geschichte einen ernsten Hintergrund. Fast eine Million behinderter Kinder leben in Deutschland, zum überwiegenden Teil betreut in ihren Familien. Von Behörden und Gesellschaft werden sie dabei oft genug allein gelassen. Schnittger fordert mit gutem Grund und nicht erst seit Corona nachdrücklich eine Revolution in der Pflege und mehr Wertschätzung für pflegende Angehörige. (as)
Arnold Schnittger: Ich berühr den Himmel: Im Rollstuhl durch Deutschland. smm Leichte Sprache Verlag 2019, 217 Seiten, EUR 10,00.
Neuer Schwung
Seit einem Reitunfall sitzt Teenager Nina im Rollstuhl. Damit hätte sie eigentlich kein großes Problem – wenn sie nur nicht überall mitleidig
angegafft und ausgebremst würde. Alltägliche Barrieren wie Treppen, Stufen auf dem Schulweg und nervende, schräg abfallende Gehwege
schränken ihren Bewegungsradius ein. Und ihre überfürsorgliche Mutter macht ihr das Leben schwer, weil sie Nina wie ein kleines Kind behandelt. Auch manche Mitschüler sehen eher den Rolli als sie selbst.
Das ändert sich, als der coole Skater Fabian auf Nina aufmerksam wird.
Gemeinsam entdecken Nina und Fabian die Welt des WCMX:
Skaten im Rollstuhl – natürlich ohne, dass Ninas Mutter etwas
davon mitbekommt. Nina hat Talent und ihr Leben bekommt
wieder Schwung, bis sie ihren Rolli bei einem gewagten Manöver
in der Half-Pipe schrottreif fährt. Wird sie es trotzdem schaffen, bei der WCMX-Meisterschaft dabei zu sein?
Ruth Anne Byrne gelingt es mit »Ungebremst«, den Lebensalltag von Jugendlichen im Rollstuhl glaubwürdig und positiv darzustellen. Die sympathische Heldin wird nicht auf ihre Behinderung reduziert, sondern hat mit den üblichen Widrigkeiten der Pubertät zu kämpfen: Nervende Eltern, die Beziehungen zur Peer-Group, erste Schmetterlinge im Bauch. Nebenfiguren wie ihr verständnisvoller älterer Bruder oder die beste Freundin zeigen, dass der Rolli im Alltag als Selbstverständlichkeit wahrgenommen werden kann. Und die mild dramatische WCMX-Thematik sorgt für die nötige Spannung, dank derer man diesen Jugendroman auch als älterer Leser gern in einem Rutsch durchliest. (as)
Ruth Anne Byrne: Ungebremst. Tulipan Verlag 2022, 180 Seiten, EUR 15,00.
Alle Leistungen und Rechte
Seit im Jahr 2017 die erste Stufe des Bundesteilhabegesetzes in Kraft getreten ist, ist das Behindertenrecht in Deutschland im Umbruch begriffen. »Personenzentriert und nicht einrichtungszentriert« heißt inzwischen das Schlagwort. Im Mittelpunkt stehen nun anstelle des Fürsorgesystems der Sozialhilfe die Selbstbestimmung des Menschen mit Beeinträchtigung sowie der individuelle Bedarf des Einzelnen.
Voraussetzung für eine Inanspruchnahme der umfassenden Rechte, die Menschen mit Behinderungen als Nachteilsausgleich haben, ist allerdings ein Überblick über die Materie. Denn nach wie vor ist das System von Leistungen und Zuständigkeiten in Deutschland kompliziert und für den Laien schwer zu durchschauen.
Der vorliegende Ratgeber bietet insbesondere neu Betroffenen und ihren Angehörigen hierzu eine übersichtliche und leicht verständliche Einführung in kompakter Form. Die zweite Auflage beleuchtet nun auch die Änderungen, die mit dem Teilhabestärkungsgesetz am 1. Januar 2022 in Kraft getreten sind. Diese sollen Menschen mit Behinderungen eine bessere Teilhabe im Alltag und insbesondere eine Erwerbstätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt ermöglichen. Zu den neuen Maßnahmen gehören neben aktualisierten Vorgaben für Jobcenter und Arbeitsagenturen u.a. auch reformierte Regelungen zur Kraftfahrzeug-Hilfe, zur Mitnahme von Assistenzhunden, zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement und zu Digitalen Gesundheitsanwendungen. (as)
Karl-Friedrich Ernst: Behinderung und Teilhabe. Alle Leistungen und Rechte. Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen e. V.: 2021, 192 Seiten, EUR 14,90.