Seit Jahrzehnten mischt sie sich konstruktiv ein in die deutsche und internationale Politik: Sigrid Arnade. Die promovierte Tierärztin, Aktivistin und Mitbegründerin des Deutschen Behindertenrats erhielt zwei Mal das Bundesverdienstkreuz und hat die UN-BRK in New York mit erstritten. Als Sprecherin der LIGA Selbstvertretung, eines Zusammenschlusses von 13 Selbstvertretungsorganisationen, konfrontierte sie die Parteien vor der Bundestagswahl mit konkreten Forderungen. Wir fragten sie: Wie war Ihre persönliche Reaktion auf das Wahlergebnis?

Sigrid Arnade: Unmittelbar danach war ich schon erleichtert, dass wir keinen CDU-Kanzler bekommen. Ich hätte mir allerdings eher eine rot-rot-grüne Koalition gewünscht.

Warum?

Ich glaube, dann wäre noch mehr vorangegangen. Vielleicht täusche ich mich aber auch. Die FDP hat einen guten behindertenpolitischen Sprecher. Und in menschenrechtlichen und bürgerrechtlichen Fragen ist die FDP ja richtig gut. Das könnte bei der Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes helfen.

Die neue Bundesregierung ist jetzt mehr als 100 Tage im Amt. Wie ist Ihr erster Eindruck?

Ich glaube schon, dass diese Regierung mehr für behinderte Menschen tun wird als die Vorgängerregierung. Aber ich glaube nicht, dass jetzt plötzlich alles gut wird.

Warum nicht?

Wir kennen die Erfahrung ja aus der rot-grünen Regierung 1998, nach 16 Jahren Kohl. Damals dachten wir auch: Jetzt wird alles gut. Und es war dann doch ein langer Kampf, die Regierung zum Jagen zu tragen …

… obwohl damals viel Gutes im Koalitionsvertrag stand?

Ja. Und es wird jetzt nach 16 Jahren Merkel genauso sein, dass die Regierenden immer wieder geschubst werden müssen. Aber grundsätzlich scheint mir die Bereitschaft größer, etwas zu tun. Und Hoffnung macht mir, dass das Parlament diesmal jünger und diverser ist und dazu immerhin zwei Abgeordnete mit sichtbarer Behinderung gehören.

Was ist denn positiv am aktuellen Koalitionsvertrag?

Die Unterzeichnenden haben zum Thema Barrierefreiheit eine Menge vor. Sie wollen das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz nochmal anfassen. Sie wollen die freie Wahl von Wohnort und Wohnform stärken, das persönliche Budget stärken, die Ausgleichsabgabe erhöhen. Bei Gewaltschutzmaßnahmen sollen behinderte Frauen berücksichtigt werden. Und der Partizipationsfonds für Selbstvertretungsorganisationen wird erhöht. Das sind alles Dinge, die lesen sich gut.

Was ist noch positiv?

Private Anbieter von Waren und Dienstleistungen sollen zur Barrierefreiheit verpflichtet werden. Oder zumindest zu angemessenen Vorkehrungen. Das ist eine ganz zentrale Aussage.

Lässt sich das denn einlösen?

Na ja, es klang bereits etwas anders, als wir dann mit den behindertenpolitischen Sprechern der Fraktionen geredet haben. Da sagte der Abgeordnete der FDP: »Jaja, wir machen ein Förderprogramm!« Ein Förderprogramm ist nett. Aber eine Verpflichtung zur Barrierefreiheit ist etwas anderes. Und da dürfen sie sich nicht wieder rausreden mit der unübersichtlichen Lage zwischen Bundes- und Länderkompetenz.

Könnte man das durch ein Gesetzgebungsverfahren konkretisieren?

Es gibt Vorschläge des Forums für behinderte Juristinnen und Juristen, die man ins AGG einbauen könnte. Wenn man wollte, dann gäbe es Möglichkeiten.

Sie waren bei der ersten Zusammenkunft der Selbstvertretungen mit den neuen behindertenpolitischen Sprechern dabei. Wie ist Ihr Eindruck: Werden die an einem Strang ziehen?

Corinna Rüffer von den Grünen und Jens Beeck von der FDP haben sich schon in der letzten Legislatur sehr eingesetzt und arbeiten auch fraktionsübergreifend zusammen. Bei denen habe ich ein gutes Gefühl. Die Frage ist jetzt: Wie sieht es bei der SPD aus? Bei unserem Treffen war Takis Mehmet Ali dabei, der wirkte ganz tatendurstig und aufgeschlossen, sodass ich denke: Da ist Entwicklungspotential.

Und von der CDU?

Von der CDU war Hubert Hüppe dabei, der aber nicht behindertenpolitischer Sprecher der CDU geworden ist. Als ehemaliger Bundesbehindertenbeauftragter bringt er viel Erfahrung mit und liegt in vielen Fragen auf unserer Linie. Von daher kämpft er aber auch immer einen einsamen Kampf innerhalb seiner Fraktion.

Ich hatte beim Lesen des Koalitionspapiers den Eindruck, dass es viele Widersprüche bereithält. Ein Beispiel: Im Kapitel »Inklusion« heißt es vielversprechend, Ausnahmen beim barrierefreien Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs werde man bis 2026 abschaffen. Liest man aber im Kapitel »Verkehr«, dann heißt es da nur: »Wir wollen barrierefreie Mobilitätsstationen fördern«. Kann es sein, dass die Gruppe »Inklusion« gar nicht durchgedrungen ist zur Gruppe »Verkehr«?

Es ging ja sehr schnell mit dem Koalitionsvertrag. Ich nehme an, dass da verschiedene Gruppen nebeneinander gearbeitet und nicht unbedingt alles abgestimmt haben.

Und der Prozess beginnt jetzt erst …

Ja, das wird jetzt passieren.

Wird das nicht schwierig, da die FDP beispielsweise das Verkehrsministerium führt?

Das ist die große Frage, inwieweit da Aufgeschlossenheit herrscht oder der behindertenpolitische Sprecher der FDP innerhalb der Fraktion darauf hinwirken kann.

Sind Sie da optimistisch?

Ich denke, dass das Verkehrsministerium ordentlich Druck bekommen wird. Ob die behindertenpolitischen Sprecher sich durchsetzen können, da bin ich nicht hundertprozentig optimistisch. Aber ich hoffe es. Ich hatte als Rollstuhlnutzerin erst vergangene Woche wieder ein Ärgernis mit der Deutschen Bahn. Das habe ich unter anderem an den behindertenpolitischen Sprecher der FDP weitergeleitet, mit der Bemerkung, dass ich hoffe, dass er einen guten Kontakt zu seinem Minister hat.

Ihre Taktik klingt gut: Eigentlich müsste man jetzt immer FDP-Abgeordnete bearbeiten, damit sie »ihr« Verkehrsministerium mit Argumenten füttern …

Ich habe das auch an Sören Pellmann von der Linkspartei geschickt, damit er eine parlamentarische Anfrage stellt. Jeder Abgeordnete hat ja eine feste Anzahl solcher Anfragen pro Sitzungswoche. Er schrieb zurück, sein Fragenkontingent sei schon ausgeschöpft, aber er überlege, eine kleine Anfrage daraus zu formulieren …

Greifen wir ein paar weitere Themen auf. Wie steht es um das Kapitel »Wohnen«?

Da steht im Koalitionsvertrag etwas drin von wegen »barrierearm«. Das ist allerdings kein definierter Rechtsbegriff, »Barrierefreiheit« schon. Wir haben im Namen der LIGA deshalb gleich an die neue Bundesbauministerin geschrieben, dass es sich um »barrierefreie« Wohnungen handeln muss.

Dabei soll »Wohnen« ja ein zentrales Thema der kommenden Jahre werden …

Ja, und das Bundesinnenministerium hat 2021 eine Studie veröffentlicht, nach der im gesamten Bundesgebiet absehbar 170 000 barrierefreie Wohnungen jährlich fehlen werden. Von daher müssen da große Anstrengungen unternommen werden. Und das Ganze muss bezahlbar sein. Da ist dann allerdings die FDP möglicherweise ein Bremsklotz …

… im Finanzministerium. Wie steht es denn mit dem Thema »Arbeit«? Angekündigt ist eine »vierte Stufe« der Ausgleichsabgabe für Arbeitgeber, die keinen Menschen mit Behinderung beschäftigen. Ist das durchsetzbar?

Arbeitsminister Hubertus Heil hat die Erhöhung ja schon vor gut einem Jahr angekündigt. Da hatte er nur vergessen, dass er eine Kanzlerin über sich hatte, und das vorher nicht mit ihr abgesprochen. Aber jetzt, wo die SPD an der Regierung ist, kann er das eventuell durchsetzen. Eine vierte Stufe muss sich dann allerdings auch laufend dynamisch erhöhen, damit die Unternehmen das nicht aus der Portokasse zahlen.

Über welches Ressort haben wir noch gar nicht gesprochen?

»Bildung« ist ein schwarzes Loch. Wo bleibt ein Aktionsplan? Man fragt sich: Haben die Koalitionäre das deutsche Bildungssystem bezüglich einer inklusiven Reform schon aufgegeben?

Dabei sind sich doch alle darüber einig, wie wichtig inklusive Bildung wäre …

Aber daran haben sich schon Generationen die Zähne ausgebissen. Und jetzt wird es nicht einmal mehr erwähnt.

Was fehlt noch?

Da die UN-Behindertenrechtskonvention im Koalitionsvertrag nicht ein einziges Mal erwähnt wird, fürchte ich, dass man weiterhin
die Rechte behinderter Menschen unter einen Kostenvorbehalt stellen wird. Ich erinnere mich, als wir der behindertenpolitischen Sprecherin der Grünen gesagt haben: »Im Koalitionsvertrag fehlt die Menschenrechtskonvention!« Da war sie ganz entsetzt und sagte: »Wieso, im Entwurf hatten wir das doch drin?« Die Grünen wissen selbst gar nicht, wie das rausgeflogen ist.

Dann wird also doch nur wenig vorangehen?

Na, doch. Aber halt nicht so viel, wie wir uns wünschen. Ich glaube, einzelne Abgeordnete wie Corinna Rüffer – oder auch andere – wollen wirklich etwas erreichen. Und solche Abgeordnete werden wir auch als Verbündete haben.

Was können unsere Leserinnen und Leser tun, um die Themen voranzubringen?

Ihre Bundestagsabgeordneten besuchen. Jeder Bundestagsabgeordnete hat ein Wahlkreisbüro. Da kann man einen Termin ausmachen. Und die Dinge besprechen: Das sind unsere Forderungen! Wann wird das endlich umgesetzt? Wie lange müssen wir noch warten? Inwieweit werden Sie sich für mich engagieren?

Und was tut die LIGA Selbstvertretung in der nächsten Zeit?

Wir gehen als nächstes an die oder den behindertenpolitischen Sprecher der SPD. Wir pflegen regen Austausch mit den behindertenpolitischen Sprechern der Grünen und der FDP. Und wir werden denen allen gründlich auf die Nerven gehen.

Den Koalitionsvertrag finden Sie hier:

www.bundesregierung.de/breg-de/service/geset- zesvorhaben/koalitionsvertrag-2021-1990800

Zur LIGA geht es hier:

www.liga-selbstvertretung.de

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